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Helvetisches Hockey im Jahre 2017 ist, wenn am Ende doch der SC Bern gewinnt. Der Titelverteidiger lag in Spiel 5 gegen Lugano kurz vor Schluss mit 2:3 zurück und rettete sich in die Verlängerung. Im Penaltyschiessen lag er lange 0:1 zurück und gewann am Ende doch noch das Spiel und die Serie.
Beim letzten Akt des wagnerianischen Dramas stehen nur noch zwei einsame Männer in modernen Ritterrüstungen auf der Bühne. Mehr als 17'000 Augenpaare schauen zu. Penaltyschiessen.
Die Eis-Gladiatoren mögen diese Form des Kampfes, der Entscheidung nicht. Dabei ist es die ehrlichste, fairste und beste Art und Weise um einen Sieger zu ermitteln. Die Schiedsrichter können den Hockeygöttern nicht ins Handwerk pfuschen. Es ist das Duell Mann gegen Mann. High Noon. Wer blinzelt, verliert. Die Urform des Duells. Stürmer gegen Torhüter. Nervenkraft, Schlauheit, Technik und Talent entscheiden. Es ist der ultimative Test für Goalie und Stürmer.
Ab nächster Saison gibt es dieses Drama nicht mehr. Dann wird gespielt bis zur Entscheidung. Wer weiss, vielleicht haben wir in Bern soeben einen historischen Moment erlebt. Zum letzten Mal High Noon in den Playoffs. Zehn Mal High Noon.
Beim SCB scheitern Ryan Lasch, Simon Bodenmann und Martin Plüss am flamboyanten Elivs Merzlikins. Justin Krueger trifft im zweitletzten und Mark Arcobello im letzten Versuch.
Für Lugano trifft nur Damien Brunner im ersten Penalty. Dann scheitern nacheinander Linus Klasen, Luca Fazzini, Dario Bürgler und Maxim Lapierre.
Der SCB hat zum achten Mal hintereinander in den Playoffs in Verlängerung oder Penalty-Schiessen gewonnen.
SCB-Trainer «Kari Boucher» hätte sich beim Spiel mit dem taktischen Feuer allerdings beinahe die Finger verbrannt. Der neutrale Beobachter kommt zum Schluss, dass ihn ein «Chrottehaar im Sack» («Ein Krötenhaar in der Hosentasche») gerettet hat. Dieser uralte Berner Ausdruck steht für ausserordentliches Glück.
Der SCB gerät 0:2 in Rückstand, liegt 203 Sekunden vor Schluss immer noch 2:3 zurück, schafft den Ausgleich, kommt durch die Verlängerung, liegt im Penalty-Schiessen wieder 0:1 hinten und gewinnt am Ende doch 2:1.
Gratulation ans Team zum Finale... wie man sieht mit Einsatz total! pic.twitter.com/km34wT212R
— Marc Lüthi (@MarcLuethi) 31. März 2017
Das Spiel mit dem taktischen Feuer war eine geradezu provokativ passive, aber letztlich meisterliche Spielweise. Kari Jalonens defensives Buchhalter-Hockey mahnte zeitweise an die finstersten Momente der Ära des gescheiterten Defensivfanatikers Guy Boucher (letzte Saison in Bern gefeuert, jetzt bei Ottawa in der NHL).
Selbst der jeder Polemik abholde Chronist der noblen NZZ spottete in der Pause über «Scheckbuch-Hockey». Ein durchaus passender Ausdruck, der sich für den Abgesandten einer Zeitung mit einem so berühmten Wirtschaftsteil geziemt. Aber alles wird sich schliesslich in finaler Freude auflösen.
Kari Jalonen ist ein Vertreter der echten finnischen Hockeyphilosophie. Die Finnen sind zwar dazu in der Lage, mit Lauf- und Tempohockey nominell schwächere Gegner vom Eis zu fegen. Aber das Erfolgsrezept gegen die Titanen des Welteishockeys ist schlaues, elastisches, defensives Schachspiel mit schnellen Gegenstössen. Der SCB spielt unter Jalonen eine geduldigere, ruhigere, gepflegtere, in der Angriffsauslösung kultiviertere, kreativere Version von Guy Bouchers hektischem Betonhockey.
«Kari Boucher» hielt eine Mannschaft am taktischen Zügel zurück, die mit ziemlicher Sicherheit dazu in der Lage gewesen wäre, über Lugano noch in der regulären Spielzeit durch rollende Einsätze von vier Linien hinwegzufegen. Und so gelang einem tapferen Lugano nach der bitteren Drama-Niederlage vom letzten Dienstag (1:3) im Spiel der letzten Chance die Wiederauferstehung.
Ja, Lugano, dem die Rückkehr von Damien Brunner (sein erster Einsatz in dieser Serie) ein emotionales Zubrot bescherte (Brunner hatte dann seinen Stock beim Treffer zum 0:2 im Spiel und versenkte den ersten Penalty), hätte diese Partie durchaus gewinnen können. Während der regulären Spielzeit und später auch in der Verlängerung – und im Penaltyschiessen sowieso.wats
So sah es auch der freundliche Titan Philippe Furrer, der mit dem SCB schon dreimal Meister war und mit Lugano noch nicht. Nach dem grossen Drama steht der WM-Silberheld unten im «Bärengraben», im Vorhof zu den Kabinengängen. Er ist erstaunlich gut gelaunt. Ja, er lacht sogar.
«Das ist verrückt», sagt er. «Ich müsste wütend und traurig sein. Aber ich bin es noch nicht. Ich kann es einfach immer noch nicht fassen, dass es schon vorbei ist. Wir haben so gut gespielt, ich fühle mich so gut, dass ich am Samstag wieder antreten möchte. Mir ist, als müssten wir am Samstag erneut spielen. Es kann einfach nicht sein, dass schon Schluss ist ...» Die Enttäuschung werde er wohl erst im Laufe der Nacht realisieren.
Es ist ungläubiges Staunen über ein bitteres Scheitern in einer hochstehenden Serie. Der SCB war zwar in den Spielen zwei und drei klar im Vorteil. Aber in den Spielen eins, vier und fünf war Lugano besser – und gewann doch nur die erste Partie. Philippe Furrer sagt: «Ich war so sicher, dass wir es gegen den SCB schaffen können. Wir sind im Laufe der Viertelfinalserie gegen die ZSC Lions zu einer verschworenen Einheit geworden.»
Aber es reichte nicht. Lugano vermochte das 2:0 (29. Minute) nicht einmal drei Minuten zu halten. Zu wenig lang, um beim SCB die Dämonen des Zweifels, der Unsicherheit und Nervosität zuwecken.
Der Anfang vom dramatischen Ende war ein dreifaches Eigentor. Steve Hirschi, der erfahrene Titan, spediert den Puck im letzten Spiel seiner Karriere unbedrängt ins Publikum. Zwei Minuten. Raffaele Sannitz gewinnt das Bully, spielte die Scheibe zurück und Sébastien Reuille lenkt sie unhaltbar zwischen Elvis Merzlikins Schoner ins eigene Tor ab. Diesem Anschlusstreffer zum 1:2 gehen also drei (!) Puckberührungen der Luganesi voraus.
Um beim alten Berner Spruch mit dem«Chrottehaar» zu bleiben: Eher wächst einer Kröte ein Playoffbart, als dass in diesem Jahrhundert noch einmal in einem so wichtigen Playoff-Spiel ein so kurioses Tor gelingt.
Im Rückblick sehen wir, dass dieses kuriose 1:2 von zentraler Bedeutung war. Bei den Bernern festigt sich die Gewissheit, dass es wieder gelingen wird, einen Weg zum Sieg zu finden. Sie ändern ihr taktisches Verhalten nicht. Sie verwalten weiterhin geduldig das Spiel und vermeiden Emotionen und Hektik – und am Ende gewinnen sie im Penaltyschiessen.
Im Falle einer Niederlage wäre SCB-Trainer «Kari Boucher» für sein Rechenschieber-Hockey getadelt worden. Aber Bern hat gewonnen und steht im Finale. Die letzte Wahrheit ist immer das Resultat oben auf dem Video-Würfel. Also wird das, was wir als Passivität, vielleicht gar als Arroganz kritisiert hätten, jetzt in höchsten Tönen als taktische Klugheit, Geduld und Disziplin in den höchsten Tönen belobigt.
Die schnelle Entscheidung in fünf Partien ist für den SCB wichtig und wird womöglich ein entscheidender Faktor im Finale sein. Kari Jalonen coacht nämlich gnadenlos auf Resultat und forciert seine besten Kräfte extrem. Vier seiner Titanen mutete er mehr als 29 Minuten Arbeitszeit zu: Roman Untersander (35:35 Min.), Eric Blum (35:33 Min.), Mark Arcobello (29:41 Min.) und Thomas Rüfenacht (29:12 Min.). Bei Lugano kommt nur Verteidigungsminister Philippe Furrer auf mehr als 29 Minuten Eiszeit (30:55Min.).
«Die Pause bis zum ersten Finalspiel am Donnerstag ist für uns wichtig, um wieder Energie zu tanken» sagt der grosse, siegreiche finnische Bandengeneral. Er werde den Spielern zwei freie Tage geben. «Sie sollen zwei Tage vom Stadion fernbleiben und den Kopf durchlüften. Was wir jetzt nicht können, das lernen wir bis zum Finale im Training sowieso nicht mehr.»
Es war ein grosses Drama von allerhöchstem Unterhaltungswert. Jalonen sagt, man habe aus der Niederlage im ersten Spiel die richtigen Schlüsse gezogen und Luganos spielerischen Freiraum erfolgreich eingeengt. Aber eine bange Frage bleibt für den SCB: Hat «Kari Boucher» womöglich zu viel von seinem Glückskonto abgebucht, um dieses Spiel doch noch gewinnen zu können? Jalonen sagt: «Glück? Grosse Mannschaften haben Glück.»
Wir können auch sagen: Glück macht grosse Mannschaften. Die Art und Weise, wie der SCB diese Serie gewonnen hat, lässt fast nur einen Schluss zu: So wird man Meister. Helvetisches Eishockey 2017 ist, wenn der SCB am Ende doch gewinnt.