Sportpsychologe
Sportpsychologe: «Olympia kann schon nerven»

Wie verarbeitet man den tödlichen Unfall eines Rodlers? Wie geht man mit Versagensängsten um? Wie therapiert man Lagerkoller und Liebeskummer? Der Sportpsychologe Jörg Wetzel ist mit vielen Problemen konfrontiert. Bereits zum dritten Mal ist er bei Olympischen Spielen dabei.

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Jörg Wetzel

Jörg Wetzel

Aargauer Zeitung

Felix Bingesser, Whistler

Jörg Wetzel, laufen Sie am Morgen im olympischen Dorf durch den Frühstückssaal und sagen allen, wie gut sie ausschauen und dass heute ihre Stunde geschlagen hat?
Jörg Wetzel: Nein, so banal funktioniert die psychologische Betreuung nicht. Ich muss authentisch sein und nicht irgendeine Rolle spielen. Und grundsätzlich gehe ich nie aktiv auf Athleten zu. Ich bin da, wenn es Probleme gibt.

Was ist denn Ihre Aufgabe?
Wetzel: Nach den Olympischen Spielen in Salt Lake City hat man die Bedeutung einer fachlich qualifizierten Betreuung im psychologischen Bereich bei Swiss Olympic erkannt.

Beim Tod des georgischen Rodlers war Notfallpsychologie gefragt. Was haben Sie da gemacht?
Wetzel: Grundsätzlich sage ich schon seit Jahren, dass bei jedem Grossanlass etwas passiert, wo Notfallpsychologie gefragt ist. Nach dem Tod des Georgiers haben wir die Gruppe der Schweizer Rodler sofort zusammengenommen und mit der Arbeit begonnen. Da gibt es klar definierte Abläufe.

Und wenn einer nicht betreut werden will?
Wetzel: Dann respektieren wir das. Aber grundsätzlich sind die, die sich zurückziehen, das grössere Problem als diejenigen, die trauern und weinen und alles infrage stellen. Bei denen, die sich zurückziehen und nichts an sich heranlassen, kann es gut sein, dass die Personen stärker betroffen sind als oft vermutet und sich ein so genanntes posttraumatisches Belastungssyndrom entwickelt. Der Begriff stammt aus dem Vietnamkrieg, als die Leute Monate und Jahre später in Depressionen oder andere psychische Auffälligkeiten verfielen.

Was haben Sie mit der Mannschaft der Rodler konkret gemacht?
Wetzel: Wir haben uns zusammengesetzt und diskutiert. Wenn fünf Meter neben ihnen ein Mensch stirbt, dann ist das für jeden eine Belastung und dann ist es normal, dass es Sinnfragen gibt. Man kann dann den jungen Leuten Sicherheit zurückgeben.

Wie?
Wetzel: Ich kann und will nicht ins Detail gehen. Grundsätzlich aber braucht man in diesen Situationen Struktur und einen klaren Tagesablauf. Und dann gibt es einen symbolischen Akt der Trauer.

Beispielsweise?
Wetzel: Wenn in einer Schulklasse ein Kind stirbt, dann schreibt man gemeinsam Abschiedsbriefe und macht gemeinsam eine Zeichnung. So etwas hilft enorm. Und etwas in dieser Art haben auch wir gemacht.

Erleben Sie auch Versagensängste von Sportlern vor diesen kapitalen Wettkämpfen?
Wetzel: Natürlich. Versagensängste hat jeder. Auch ein Didier Cuche und ein Roger Federer kennen dieses Problem. Aber sie akzeptieren es und wissen damit umzugehen. Und da setzt unsere Arbeit an. Wenn die Trainingsmethodik ausgereizt und das Material perfekt ist, dann bleibt nur noch der mentale Bereich.

Dann sind Sie ein Mentaltrainer?
Wetzel: Früher habe ich mich gegen diesen Begriff gewehrt. Mentaltrainer kann sich jeder nennen. Aber heute sage ich: Alles, was etwas bringt, ist gut. Mentaltraining ist die Basis, die Sportpsychologie kommt dann hinzu. Grundsätzlich arbeite ich ja mit vielen Athleten längerfristig. Hier an Olympischen Spielen ist die Situation speziell. Durch diesen Gigantismus bei Olympia, wo die Organisation im Mittelpunkt steht, ist alles anders. Gerade bei Vertretern von Randsportarten kommt vieles zusammen. Auch das grosse Medieninteresse. Und dann sind sie plötzlich überfordert. Olympische Spiele sind sehr speziell. Und das wird immer wieder unterschätzt.

Gibt es auch Lagerkoller?
Wetzel: Natürlich. Es gibt diesen so genannten Olympia-Mief. Jeder ist wichtig, jeder ist fokussiert und angespannt. Das kann schon auf die Nerven gehen. Und in der zweiten Woche kommt es zum so genannten «second-week-blues». Die einen sind konzentriert und andere kommen lärmend und angetrunken von einer Party zurück. Darum ist es gut, dass diejenigen Athleten, die die Wettkämpfe hinter sich haben, achtundvierzig Stunden später das olympische Dorf verlassen müssen.

Gibt es auch Liebeskummer?
Wetzel: Das Problem ist eher, dass alle weit weg von zu Hause sind.

Wie oft müssen Sie beratend zur Seite stehen?
Wetzel: Bei den Spielen in Turin waren es achtzig Interventionen. In Peking waren es bereits 120. Hier zähle ich sie gar nicht mehr. Wobei eine Intervention auch nur ein viertelstündiges Gespräch bei einem Kaffee sein kann. Oder es kommt beispielsweise der Trainer der Curlingmannschaft und sagt: Können wir noch einmal zusammensitzen, unser Skip ist völlig von der Rolle. Zwischen den Ohren passiert halt einiges.