Startseite
Sport
Der Aargauer Weltklasse-Skiakrobat Dimitri Isler klebt sich die Go-Pro-Kamera auf den Helm und zeigt anlässlich der Schweizer Meisterschaft in Airolo einige seiner spektakulärsten Sprünge aus einer ganz neuen Perspektive.
Radarmessung mitten im Skigebiet von Airolo. Michel Roth steht mit dem mobilen Gerät am Pistenrand und verfolgt die Anfahrt eines Skiakrobaten. „55 Stundenkilometer“ ruft der Nationaltrainer des Schweizer Aerials-Teams, „perfekt“. Maximal zwei Kilometer darf die Geschwindigkeit abweichen, bevor der Athlet mit seinen kurzen Skiern auf die mächtige Schanze auffährt.
Und danach je nach Grösse der Anlage – bei den Weltcups brausen die Wettkämpfer mit rund 70 km/h auf den Absprung los - bis zu drei Saltos und fünf Schrauben in die Luft zaubert. Stimmt die Anfahrtsgeschwindigkeit nicht, wird es gefährlich. Auch für die beiden Weltcupfahrer Dimitri Isler und Mischa Gasser.
Ein Aargauer und ein Solothurner
Der Aargauer Isler und der Solothurner Gasser sind die derzeitigen Aushängeschilder der Skiakrobaten. Jene Randerscheinung innerhalb des Schweizer Skisports, die in ihrer kurzen olympischen Geschichte (seit 1994) dank Sonny Schönbächler und Evelyne Leu bereits zwei Olympiasieger hervorgezaubert hat.
Die nächsten Olympischen Spiele sind auch das grosse Thema für die beiden Flachländer Isler und Gasser, die wegen ihrer Herkunft in den Kadern von Swiss Ski in etwa gleich exotisch wirken wie ihre Disziplin. 2018 in Südkorea wollen sie zuschlagen, sprechen vom Olympischen Diplom, vom Erreichen des Superfinals der besten Sechs. Man traut es ihnen zu.
Von Mitläufern zu Teamleadern
Die Rücktritte im Schweizer Team nach den Winterspielen von Sotschi haben die beiden ehemaligen Turntalente in den Sog der Weltspitze gespült. Das Duo vollzog den Sprung von Rookies, die im Schatten der Teamleader lernten, zu den neuen „Chefs“ im Scheinwerferlicht. Das beinahe identische Leistungsvermögen und das gute Verhältnis zueinander machten es einfacher. Oder wie es der Stadt-Solothurner Mischa Gasser ausdrückt: „Keiner von uns hat das Gefühl, er müsse der Teamleader spielen“. Sie sind es längstens beide.
In diesem Winter lieferten sie ihre ersten Top-10-Plätze im Weltcup ab – der 21-jährige Isler aus Fahrwangen als Siebter in Moskau, der zwei Jahre ältere Gasser gleich mit zwei feinen sechsten Plätzen in Moskau und Minsk.
Die Leistungskurve der beiden Freunde, die sich im Weltcup das Zimmer teilen und im Training gegenseitig zu Topleistungen pushen, zeigt steil nach oben. Technisch gehören sie bereits zu den Besten der Welt. So war Gasser in Moskau und Minsk der beste Athlet, der neben den obligaten drei Saltos „nur“ drei Schrauben in die Luft zauberte.
Nun muss die vierte Schraube her
Um gar aufs Podest zu springen, braucht man zwingend die vierte Schraube. Diese steht auf der gemeinsamen Menüliste für das traditionell auf der Wasserschanze in Mettmenstetten beginnende Sommertraining. Gasser spricht im Hinblick auf Pyeongchang 2018 sogar bereits von der fünften Schraube, die weltweit erst zwei Athleten beherrschen.
Egal ob drei, vier oder fünf Schrauben: Der Sprung über die imposante und für die zahlreichen Zaungäste in Airolo Furcht einflössende Schanze ist selbst für die beiden Cracks, die Mitte April gemeinsam in die Spitzensportler-RS einrücken werden, jedes Mal eine kleine Mutprobe. Gasser sagt, dass er erst nach der misslungenen WM den entscheidenden mentalen Schritt gemacht habe. „Ob der Sprung gelingt, ist mehr eine Frage des Kopfes. Ich musste lernen, mich auch dann zu überwinden, wenn sich das Gefühl nicht unbedingt gut anfühlt. Einen Kick braucht definitiv jeder, der diesen Sport ausübt.“
Dimitri Isler pflichtet seinem Trainingspartner bei. Das Schweizer Duo erhält an den Weltcups jeweils eine Gratis-Mutprobe frei Haus. Weil ihr Trainer Michel Roth auch die Schanzen für die Wettkämpfe präpariert und das ungeschriebene Gesetz sagt, dass ein Athlet des Schanzenbauers die „Abschussrampe“ einweiht, wechseln sich Isler und Gasser mit dem Jungfernflug ab. Ohne den idealen Speed oder die Flugkurve genau zu kennen.
Mit Lockerheit zum perfekten Sprung
Sie haben es bisher verletzungsfrei überstanden. Vielleicht auch deshalb setzt der Aargauer Isler die mentalen Fortschritte auf Platz 1 seines leistungsmässigen Steigerungslaufs der vergangenen Saison. Er blühte in der neuen Situation, auf sich alleine gestellt zu sein, auf. Die in der Theorie einfache Gleichung, sich gut fühlen und locker sein = guter Sprung, war auf einmal auch in der Praxis problemlos zu meistern.
Wie gut er derzeit drauf ist, bewies Isler an den letzten Schneetagen der Saison in Airolo. Im Training zauberte er einen perfekten Sprung nach dem andern über die Schanze. An der Schweizer Meisterschaft konnte ihm niemand das Wasser reichen. Selbst sein Kumpel Micha Gasser nicht. Dieser wird die Niederlage nutzen, um noch stärker zu werden. Wie es auch Dimitri Isler tut, wenn sein Solothurner Spiegelbild besser war.