Schlafmangel, Einsamkeit und Erschöpfung sind während der Vendée Globe Alan Rouras ständige Begleiter. Nun droht auch noch Hunger, weil er seine Nahrung rationieren muss, wie er am Telefon sagt.
Der Wind bläst, die fünf Meter hohen Wellen schlagen an die Bootswand, als Alan Roura das Telefon abnimmt. Er lächelt zwar, aber er wirkt auch erschöpft. «Seit sechs Tagen habe ich kaum geschlafen», sagt er. Auch das Zeitgefühl habe er verloren. «Ich weiss nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist. Es ist ein ständiger Krieg mit mir selber.» So sehr gleichen sich derzeit seine Tage, die Welt komprimiert auf wenige Quadratmeter, Wind, Wetter, Einsamkeit und Verzicht ausgesetzt. 46 Tage sind inzwischen vergangen, seit der Genfer an der französischen Westküste in Les Sables-d'Olonne zu seiner zweiten Weltumseglung, der Vendée Globe, aufgebrochen ist.
Am Montag passierte Roura das Kap Leeuwin am südwestlichen Zipfel Australiens. Die Strecke, die er noch vor sich hat, ist nun kürzer als jene, die er zurückgelegt hat. Der 27-Jährige segelt nun in den Furious Fifties, den wütenden Fünfzigern, in den eisigen Kälten des Südpolarmeers, und nimmt Kurs auf das Kap Hoorn an der untersten Spitze Südamerikas. Zur Feier des Tages gönnte er sich einen Schluck Cognac. So, wie er das immer tut, wenn ein Etappenziel erreicht ist. «Das wärmt Körper und Seele», sagt Roura. Denn noch immer trennen ihn über 20'000 Kilometer vom Ziel.
Sein Ziel, den Hafen von Les Sables-d'Olonne in unter 80 Tagen wieder zu erreichen, wird er deutlich verfehlen. Zu Beginn des Rennens herrschte Flaute. Zuletzt bereitete die Kielhydraulik Probleme, die Reparatur kostete Zeit, vor allem aber auch Nerven. Es flossen Tränen der Enttäuschung, unter die sich Verzweiflung und Einsamkeit mischten. Die Trennung von seiner jungen Familie macht ihm vielleicht mehr zu schaffen, als er sich eingestehen will. Zwar stehen sie praktisch täglich im Kontakt, telefoniert haben sie aber erst drei Mal. Tochter Billie wird ihn nicht mehr kennen, wenn er im Februar zurückkehrt. Sie kam erst im Sommer zur Welt.
Vier Jahre nach seiner ersten Teilnahme wollte Roura die Regatta in unter 80 Tagen (25 Tage schneller als 2016) und mit einer Platzierung in den ersten Zehn beenden. Um möglichst schnell segeln zu können, verzichtet er auf Ersatzmaterial und führt nur das Nötigste mit sich. Zu essen gibt es gefriergetrocknete Menüs: Fondue, Fleisch, Kartoffelstock. «Irgendwann schmeckt alles gleich», sagt Roura. An Bord führt er auch Süssgetränke, Schokolade und Orangen mit. Dass er eine Woche hinter dem Zeitplan liegt, hat Konsequenzen. Roura sagt: «Wenn ich so weitermache, ist mein Vorrat bald aufgebraucht. Die Nahrung wird knapp, ich muss rationieren.»
Alan Roura verpasste schon früher Feiertage und Geburtstage mit seinen Liebsten, weil er irgendwo alleine im Ozean segelte. Doch diesmal fehlt er an den ersten Weihnachten als Familienvater. Normalerweise würde er sich ein Glas Rotwein gönnen, gut essen, die Gesellschaft geniessen. Alan Roura, der auf dem Meer aufgewachsen ist, mit acht Jahren mit seiner Familie erstmals den Atlantik auf einem Segelboot überquerte und mit 13 in einer Werft in Venezuela als Arbeiter anheuerte, ist genügsam. Doch auf dem Meer fehlt es ihm derzeit an allem, was das Leben lebenswert macht.
Weshalb tut ein Mensch das? Roura sagt:
«Ich brauche das Meer, ich brauche das Segeln. Das ist mein Leben, meine Leidenschaft, mein Beruf, und das einzige, was ich kann. Allein in See zu stechen, und um die Welt zu segeln, ist so oder so egoistisch.»
Alan Roura ist kein Egoist. Schnell zu segeln, mag sein Ziel sein. Gesund wieder zurückzukehren, in den Schoss seiner Familie, steht aber an erster Stelle. Eine Familie komplettiere einen Menschen, und das mache ihn zu einem besseren Segler, achtsamer und verantwortungsvoller. Die Liebsten trägt er im Herzen. Für einen Menschen, der ihm nahe steht, der in diesem Jahr sieben Monate im Spital gegen eine Krebserkrankung kämpfte, übergibt er kleine Holzflösse der Strömung. «Jedem Weltmeer eines. Aus Dankbarkeit, dass dieser Mensch noch am Leben ist. Ohne diese Person wäre ich nicht da, wo ich heute bin», sagt Roura. Es fliessen Tränen.
Am Tag vor Heiligabend liegt Alan Roura auf Rang 15, 2600 Seemeilen hinter dem Führenden. Erst im Februar wird er zurückkehren, vielleicht nach 85 Tagen, vielleicht nach über 90 Tagen. Er wird erschöpft sein, und die Hälfte seiner Muskelmasse verloren haben. Herz und Notizbuch gefüllt mit Gedanken, die ihn dort draussen beschäftigt haben. Als er 2017 im Hafen von Les Sables-d'Olonne einlief, da sagte er: «Mir fehlen die Worte. Man müsste ein Buch schreiben.» Es ist ein Buch, das wohl nie erscheinen wird. «Weil Antworten auf bestimmte Fragen da bleiben müssen, wo man sich die Fragen gestellt hat.» In den Weiten des Meers. «Im Februar», sagt Roura am Telefon, «bin ich zurück». Dann reisst die Verbindung wieder ab.