Kitzbühel
Wachablösung im alpinen Skisport: Stösst die Schweiz heuer erstmals seit 30 Jahren Österreich vom Thron?

Den Österreichern vor der Nase stehen? Nach 30 Saisons hat Swiss-Ski gute Chancen, den Rivalen in der Nationenwertung zu bezwingen – als Belohnung lockt eine halbe Million.

Martin Probst
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Viele Punkte für Österreich? Matthias Mayer (l.) soll’s richten. Vergrössert Beat Feuz (r.) den Schweizer Vorsprung? (Bild: Keystone)

Viele Punkte für Österreich? Matthias Mayer (l.) soll’s richten. Vergrössert Beat Feuz (r.) den Schweizer Vorsprung? (Bild: Keystone)

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Hansi Hinterseer reagiert, wie es viele Österreicher in diesen Tagen tun. Denn die Seele derer, die den Skisport in unserem Nachbarland im Herzen ­tragen, schmerzt. Zumindest ein wenig. Aber viel mehr als es der Stolz zugeben würde. «Das ist eine typische Schweizer Frage», sagt Hinterseer, blondes Haar, weisse Jacke. Der Schlagersänger ist in Kitzbühel in seinem Element. Hier wurde er geboren, hier hat er 1974 den Weltcup-Slalom gewonnen. Singen und Skifahren. Natürlich trägt er Skischuhe.

30 Saisons in Folge hat Österreich die Nationenwertung im Skiweltcup ­gewonnen. Nun liegt die Schweiz in Führung. Also, Herr Hinterseer, wie sehr schmerzt dies in der Seele? «Wohl so, wie es euch Schweizer geschmerzt hat.» In ­Österreich sind viele bemüht, die Bedeutung der Nationenwertung etwas herunterzuspielen. Den Eindruck zu hinterlassen, als ob es nur die Schweizer interessieren würde, wenn sich Historisches anbahnt. Tatsächlich mag die Wertung etwas vergessen gegangen sein. Was gegeben scheint, ist selten spannend. Doch umso spezieller wird es, wenn eine ­Serie zu reissen droht.

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Der Daueroptimist, der sich in dieser Saison irren könnte

Und das mit der Gelassenheit? Manchmal verraten Gesten mehr als Worte. Zum Beispiel dann, wenn der Präsident des Österreichischen Skiverbandes ÖSV vor dem Fernseher sitzt und live mitrechnet, was welche Fahrt für die Nationenwertung genau bedeutet. «Beim Frauenrennen in St.Moritz habe ich das hautnah miterlebt», erzählt Georg Fraisl, Reporter bei der «Kronen Zeitung». Peter Schröcksnadel ist also nervös, auch wenn er gegen aussen ein anderes Bild zeichnet. So sagte er der FAZ, dass es ja langweilig wäre, wenn immer nur die Österreicher gewinnen würden. Und er gut damit leben könnte, wenn die Swiss-Ski reüssiere. Nette Worte mit Kalkül. Fraisl sagt: «Er ist Optimist und glaubt immer an den ÖSV.»

Schröcksnadels Pendant bei Swiss-Ski, Urs Lehmann, hat schon vor Jahren das Ziel ausgerufen, die Österreicher in absehbarer Zeit zu überholen. Lange wurde er dafür belächelt. Zu dominant war der ÖSV. Nun steht die Wachab­lösung bevor. Lehmann sagt, es wäre ein Prestige-Erfolg. «Es macht mich stolz, dass wir mittlerweile die Breite haben, um genug Punkte zu sammeln.» Es ist das Resultat von gezielter Arbeit in den vergangenen Jahren. Mit neuen Konzepten, neuen Trainern und mehr Geduld. Über Jahre hat Swiss-Ski viele Talente auf dem Weg an die Spitze verloren. Nun klappt es besser.

Punktesammler, Traumerfüller und Albtraumbeschwörer

Als Paradebeispiel gilt das Team der Slalomfahrer. Über viele Jahre war es die Disziplin der Sorgenkinder. Nun ist da eine Generation um Daniel Yule und Ramon Zenhäusern als Garant für Erfolg. Fleissige Punktesammler. Traumerfüller für Präsidenten. Albtraumbeschwörer für andere. Schröcksnadel sagte fast schon trotzig zur «Kleinen Zeitung»: Die Schweizer zahlen viel Geld, um ihn (den Nationencup, die Red.) zu gewinnen.» Als ob es der ÖSV nicht tun würde. Seit Jahren gelten die Strukturen bei unseren Nachbarn als Mass aller Dinge, werden Millionen für den Erfolg investiert.

Was ist also passiert? Sind die Schweizer so viel besser geworden oder die Österreicher so viel schlechter? Hinterseer lobt die Schweizer. «Die ­haben wirklich gute Arbeit geleistet.» Und stützt damit Andreas Puelacher, den Cheftrainer der österreichischen Männer. Dieser sagte den «Salzburger Nachrichten»: «Wir haben nicht nachgelassen. Ich glaube eher, die anderen sind durch das, was sie bei uns gesehen haben, stärker geworden.» Fakt aber ist, dass die ÖSV-Männer nur Rang vier im Ranking belegen. Ohne die Lichtgestalt Marcel Hirscher fehlt der grosse Punktegarant im Team.

Ein solcher ist Beat Feuz für Swiss-Ski, 461 Punkte hat er zur Führung im Ranking (Schweiz: 4653 Punkte, Österreich: 4376 Punkte) bisher beigesteuert. Nur Wendy Holdener holte mit 493 noch mehr. Feuz sagt: «Es wäre schön, wenn die Schweiz den Nationencup nach 30 Jahren wieder holen könnte. Es ist Zeit, denen wieder einmal vor der Nase zu stehen.» Aber Skifahren ist ein Einzelsport. In erster Linie denkt der 32-Jährige an sich. «Wir fahren selber um 100 Punkte (die gibt es für einen Sieg, die Red.) Erst das zweite Ding ist es, dass das auch für die Nationen­wertung viel bringt.»

Neben dem Prestige geht es auch um sehr viel Geld

Aber irgendwie hängt es eben doch zusammen. Weil die Athleten vom Verband profitieren und somit automatisch stärker sind, wenn dieser mehr Mittel zur Verfügung hat. Urs Lehmann sagt: «Wir haben mit den Sponsoren Leistungsprämien vereinbart. Rang eins würde uns ein schönes Extra bringen.» Wie viel, will er nicht sagen. Es dürfte sich aber um eine Summe im Bereich von rund einer halben Million Franken ­handeln.

Vor allem aber wäre es ein Ausrufezeichen in der Rivalität zwischen der Schweiz und Österreich. Das sieht auch Hansi Hinterseer so: «Seien wir ehrlich: Jede Nation will da voraus sein. Das ist doch klar.» So leicht lässt sich die Rolle des Gelassenen doch nicht spielen. Auch für einen Schauspieler.

Die Hirscher-Karte sticht nicht

Der Rücktritt von Marcel Hirscher hat Österreich in eine kleine Depression gestürzt. Die TV-Einschaltquoten sind in dieser Saison zurückgegangen. Weil die garantierten Siege fehlen. Die Sehnsucht bei den Fans ist gross. «Marcel, bitte komme zurück!», zitierte «oe24». Der Seriensieger, achtmal in Folge Gewinner des Gesamtweltcups, wird schmerzlich vermisst. Doch als Sündenbock dafür, dass Swiss-Ski die Österreicher zum ersten Mal nach 30 Jahren an der Spitze des Nationencups ablösen könnte, taugt er nicht. Auch ohne einen einzigen Punkt des Superstars wäre das ÖSV-Team stets vor den Schweizern geblieben – allerdings 2017 nicht vor den Italienern.

Trotzdem zeigt es etwas anderes. Ein Superstar alleine reicht nicht, um die Nationenwertung zu gewinnen. Es ist vielmehr die Breite im Team, die den Erfolg ermöglicht. Zwar sorgen die Besten als fleissige Punktesammler für eine perfekte Basis, doch ohne ein starke zweite Garde reicht es trotzdem nicht. In der Saison 2009/10 gewann Carlo Janka den Gesamtweltcup, und Didier Cuche wurde Dritter. Doch in der Nationenwertung reichte es nur für Rang zwei. Dies, obwohl auch bei den Frauen keine Österreicherin obenauf schwang.

Noch deutlicher zeigte sich der Fakt in der Folgesaison. Mit Cuche (2. Rang) und Janka (3.) lagen zwei Schweizer im Gesamtweltcup vor dem besten Österreicher (Michael Walchhofer als 5.). Trotzdem gewannen die Österreicher mit über 4000 Punkten Vorsprung, und selbst die Männer holten 1520 Punkte mehr.

In dieser Saison zeigt sich ein anderes Bild. Bei den Männern haben elf Schweizer bisher mehr als 100 Punkte geholt, aber nur fünf Österreicher. Bei den Frauen fünf Schweizerinnen und acht Österreicherinnen. Genau diese Verschiebung der Machtverhältnisse zu Gunsten der Schweizer Männer könnte in diesem Winter für das Happy End sorgen. (mpr)