Eine Analyse zur vermeintlichen Abschiedstournee von Skisprung-Legende Simon Ammann.
Für Simon Ammann wird es die letzte Saison sein. Selbst wenn der erfolgreichste Schweizer Winterolympionike solcherlei Ankündigungen in der Öffentlichkeit tunlichst vermeidet, im Interview mit der «Berner Zeitung» sogar darüber philosophiert, welche Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Karriere notwendig sind – tief in seinem Herzen dürfte der Entscheid gefallen sein. Oder zumindest seiner russischen Ehefrau Yana so versprochen.
Doch der 36-Jährige will sich im Hier und Jetzt keinesfalls mit dem Thema Rücktritt auseinandersetzen. Er definiert die heute im polnischen Wisla beginnende Saison nicht als Abschiedstournee, sieht sich weder als Ladenhüter im Winterschlussverkauf noch als verstaubte Legende fürs Sportmuseum.
Er will in Gedanken angreifen und nicht abtreten. Auch wenn man im letzten Winter angesichts seiner ungenügenden Leistungen beim Rauschen des bissig kalten Hangwinds an der Schanze gelegentlich ein leises «Aufhören!» herauszuhören glaubte. Wäre Simon Ammann ein Schweizer Fussballer, die Pfiffe würden ihm gelten.
Der Toggenburger Bauernsohn liess sich weder von fehlender Weite noch von gnadenlos tiefen Haltungsnoten und erst recht nicht von beissender Kritik beirren. Er bereitet sich mit bewundernswerter Leidensfähigkeit auf seine sechsten Olympischen Spiele vor.
Die Erwartungshaltung in der Öffentlichkeit tendiert gegen null. Wer einen weiteren Exploit des vierfachen Olympiasiegers voraussagt, wird ausgelacht oder im besten Fall für seinen schrägen Humor gelobt.
Genauso wenig wie Simon Ammann derzeit über einen Rücktritt spricht, plaudert er über einen Medaillengewinn in Pyeongchang. Er müsse zuerst wieder konkurrenzfähig werden, sagt der zweifache Familienvater kurz angebunden.
Doch Ammann hat längst Blut geleckt. Bereits am Ende der frustrierenden letzten Saison fand der 36-Jährige für sich Antworten, wie er auf der Schanze wieder auf Weite kommen kann.
Beim Sommer-Grand-Prix präsentierte er seine Fortschritte auch bei der Telemark-Landung. Die Punktrichter belohnten diese mit einem Noten-Upgrade von durchschnittlich 16,0 auf 18,0. Und in den Trainings demonstrierte er zuletzt die schmerzlich vermisste Entschlossenheit.
Mit dieser erinnert er langjährige Mitstreiter wie Andreas Küttel oder Berni Schödler an den Simon aus erfolgreichen Zeiten.
Es wird offensichtlich: Simon Ammann will in Pyeongchang nicht primär Geschichte als sechsfacher Olympiateilnehmer schreiben, sondern ein letztes Ausrufezeichen hinter seine Karriere setzen. Der Ehrgeiz ist ungebrochen, seine Detailbesessenheit legendär. «Simi» hat einen Medaillengewinn bei Olympia als realistisches Ziel vor Augen.
Und im Gegensatz zu den letzten zwei Wintern, als er mit seinem Zweckoptimismus ein einsamer Rufer in der Wüste blieb, bestätigen Bezugspersonen die Legitimation der wiedererwachten Ambitionen. Selbst Österreichs erfolgsverwöhnten Topspringer staunten dem Vernehmen nach über Ammanns Leistungen beim gleichzeitigen Trainingskurs in Oberstdorf.
Selbstverständlich wäre es vermessen, den Schweizer Skisprung-Evergreen in seiner 21. Saison nun zum Olympiafavoriten hochzustilisieren. Zu eklatant war sein Rückstand auf die Weltspitze im letzten Winter. Doch in der Psychosportart Skispringen geht es manchmal schnell, ist der Weg vom Überflieger zum Hinterherhüpfer so kurz wie in keiner anderen Disziplin.
Dutzende von einschneidenden Regeländerungen trugen das ihre dazu bei, die Ranglisten in regelmässigem Abstand neu zu schreiben. Ammann ist bei weitem nicht der einzige Topspringer, der sich vorübergehend ins Nirgendwo verabschiedet hat. Aber vergessen wir nicht: Sein letzter Sieg im Weltcup liegt erst drei Jahre zurück.
Bei Simon Ammann scheint jederzeit alles möglich. Genau das macht ihn im Schweizer Sport einzigartig. Also geniessen wir seine Abschiedstournee – so oder so.