Ski Alpin
Die Mission Hirscher: «Man fällt eine Entscheidung – Normalität oder sechsmal Gesamtweltcup-Sieger»

Warum der Österreicher Marcel Hirscher mehr tut als die meisten, dies von seinen Vertrauten aber ebenso verlangt.

Martin Probst
Drucken
Marcel Hirscher sucht in Vail die Materialabstimmung für den Riesenslalom.

Marcel Hirscher sucht in Vail die Materialabstimmung für den Riesenslalom.

Keystone

Das Kriseninterventionsteam ist bereit: rote Jacken, ernste Minen. Aber auch zuversichtliche Blicke und aufmunternde Gesten. So, wie es Helfer in Momenten der Not tun sollten. Sie sind mitfühlend, aber trotzdem ernst. «Es ist eigentlich eine Tragödie», sagt Marcel Hirscher, der sechsfache Sieger des Gesamtweltcups.

Um Hirscher herum stehen an diesem frühen Morgen im amerikanischen Vail sieben Männer in roten Jacken seines Ausrüsters Atomic. Es ist ein Teil seines Kriseninterventionsteams, oder wie es der Österreicher selbst nennt: seines Kompetenzzentrums.

Marcel Hirscher Sechsfacher Sieger des Gesamtweltcups.

Marcel Hirscher Sechsfacher Sieger des Gesamtweltcups.

KEYSTONE/GIAN EHRENZELLER

Jederzeit parat, um zu helfen

Vor allem aber sind sie da für ihn. Und sie tun, was sie tun sollen: Helfen – und das jederzeit. «Wenn sich einer für den leichten Weg entscheidet, ist das Verrat am ganzen Team», sagte Hirscher seinem Sponsor Red Bull. Verrat an der Mission Hirscher. Der leichte Weg wäre, im Bett zu bleiben, wenn einer beispielsweise krank ist.

«Ich habe ein gewisses Mass an Verständnis, an Menschlichkeit», sagt Hirscher. «Aber es muss den Punkt geben, an dem ich Nachteile für andere in Kauf nehme, um selbst erfolgreich sein zu können.» In unserem Beispiel würde das bedeuten: Aufstehen, trotz Grippe. Da sein für das Team, trotz eigener Schwäche.

Zwei Sekunden Rückstand

Zwei Sekunden beträgt der Rückstand von Hirscher im Riesenslalomtraining an diesem Morgen auf den Schnellsten. Zwei Sekunden für einen, der einen Riesenslalom schon einmal mit deutlich über drei Sekunden Vorsprung auf den Zweitplatzierten gewonnen hat.

Marcel Hirscher «Im Moment ist es normal, dass ich 2 Sekunden Rückstand habe.»

Marcel Hirscher «Im Moment ist es normal, dass ich 2 Sekunden Rückstand habe.»

KEYSTONE/EPA/ANTONIO BAT

Der 22 Weltcuprennen in dieser Disziplin als Sieger beendet hat, insgesamt 47-mal auf dem Podest stand, Weltmeister war und die kleine Kristallkugel viermal zu Hause stehen hat. Es ist eine Tragödie. Aber eben nur eigentlich: «Im Moment ist es normal», sagt Hirscher.

Mitte August hat sich Hirscher einen Knöchelbruch im linken Fuss zugezogen. Drei Monate lange konnte der 28-Jährige nicht Ski fahren. Ausgerechnet vor dieser Saison, in der im Riesenslalom neue Skiregularien gelten.

«Während meine Konkurrenten mit ihrem Material schon lange ein eingespieltes Team sind, funktioniert meine Beziehung noch nicht», sagt Hirscher. Das ist für ihn, den Tüftler, der den Skisport mit einer idealen Materialabstimmung so weit vom Zufall befreien will wie möglich, besonders schlimm. «Nur wenn alles perfekt passt, lässt sich das Maximum herausholen.»

Der Federer-Vergleich

Das Beste – nur das zählt für Marcel Hirscher. Roger Federer sagte in den Jahren, in denen er weniger gewonnen hat als gewohnt: «Warum soll ich aufhören? Ich spiele einfach wahnsinnig gerne Tennis.» Wäre das nicht auch etwas für Hirscher? «Nein. Weil du mit Normalität nichts gewinnst. Ich glaube, dass du eine Entscheidung treffen musst: Normalität oder sechsmal die grosse Kristallkugel gewinnen.»

Marcel Hirscher.

Marcel Hirscher.

KEYSTONE/JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Was er sagen will: Auch Federer hat niemals aufgehört, sich zu verbessern. «In meinem Team weiss jeder, was für ein Wert jeder einzelne Trainingstag hat», sagt Hirscher.

Hirschers Privat-Team ist fast schon ein Mysterium. Die wirkliche Grösse kennen nur er und einige Vertraute. Wichtig ist sein Vater Ferdinand, der Betreuer, Antreiber und Motivator zugleich ist. «Er bringt so viel Energie in das Team, dass es sogar mich beeindruckt», sagte Hirscher seinem Sponsor.

Mission Hirscher

Zum Kern des Teams gehören Trainer Michael Pircher, Physiotherapeut Josef Percht und die zwei wichtigsten Serviceleute Thomas Graggaber und Johann Strobl. Diese Männer sind auch an einem Sonntagmorgen, irgendwann weit vor der Saison, bereit, um 4.30 Uhr in eine Gondel zu steigen, um oben auf dem Gletscher an der Mission Hirscher zu arbeiten.

Marcel Hirscher.

Marcel Hirscher.

KEYSTONE/AP/ALESSANDRO TROVATI

Von ihnen erwartet der Österreicher, was er selber mitbringt: bedingungslosen Einsatz. Wenn er beispielsweise in Frankreich ein Rennen fährt und merkt, dass der beste Ski noch in Salzburg ist, weiss er, dass jeder im Team sofort bereit ist, sieben Stunden hin- und zurückzufahren, um ihn zu holen.

Und wenn dann niemand in der Fabrik ist, um den Ski fertigzumachen? Dann ruft Hirscher den Atomic-Chef an und sagt: «Ich will, dass der, der und der dort ist.»

Mehr als 10 Paar Skis

An diesem Morgen in Vail müssen keine Ski extra angeliefert werden. Mehr als zehn Paar liegen im Schnee bereit. Nach jeder Fahrt berät sich Hirscher mit seinem Kriseninterventionsteam. «Wenn wir bis Sonntag nicht grosse Fortschritte machen, muss ich um die Qualifikation für den zweiten Lauf zittern», sagt er.

Wer Marcel Hirscher, sein Team und vor allem deren Arbeitsweise und Ehrgeiz kennt, weiss: Das wird nicht passieren. «Stimmt, ich gehe schon stark davon aus, dass wir es schaffen werden», sagt Hirscher. Wetten, dass er den zweiten Lauf erreicht? Sonst werden die Tage für das Kriseninterventionsteam noch strenger.