Heute vor zehn Jahren verunglückte Silvano Beltrametti in Val d’Isère schwer, er ist seitdem querschnittgelähmt. Doch er sagt: «Mir gehts gut, für mich stimmt das Leben so.»
Er galt als Hoffnungsträger einer ganzen Generation. Hermann Maier, der Seriensieger jener Zeit, bezeichnete ihn als den Gegner, «der mir in den nächsten Jahren am meisten zu schaffen machen wird».
Es kam alles anders: Silvano Beltrametti (32) stürzte in Val d’Isère schwer und brach sich den Rücken. Die Ärzte kämpften um sein Leben. Beltrametti blieb querschnittgelähmt.
Mit einer bewundernswerten Einstellung akzeptierte Silvano Beltrametti das Schicksal und baute sich ein neues, aktives und erfülltes Leben auf. Mit seiner Frau Edwina führt er heute das Berghotel Tgantieni oberhalb Lenzerheide. Dazu ist er OK-Chef der Weltcuprennen Lenzerheide. Die az hat ihn getroffen:
Silvano Beltrametti, 10 Jahre sind seit dem fürchterlichen Sturz in Val d’Isère vergangen. Mit welchen Gefühlen denken Sie an den 8. Dezember 2001 zurück?
Silvano Beltrametti: Dieser Tag ist für mich wie ein zweiter Geburtstag. Er löst zwar auch ein bisschen Wehmut aus, aber auch eine gewisse Freude. Ich bin stolz darauf, was ich in den letzten zehn Jahren erreicht habe.
Sie gingen immer sehr gefasst und pragmatisch mit dieser Situation um. Wie schafften Sie das?
Beltrametti: Das hat vielleicht mit meiner Erziehung zu tun. Das positive Denken hat schon meine Karriere als Sportler geprägt, auch als Mensch habe ich so gelebt. Für mich war ein Glas immer halb voll und nicht halb leer. Für den Weg zurück brauchte ich viele «kleine Siege», um dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin. Zwischendurch hatte ich schon meine Tiefs, wo es mir schwerfiel, mich zu motivieren. In solchen Phasen hat mich mein Umfeld stark unterstützt.
Fachleute sagen, dass es in der Regel zehn Jahre braucht, bis man sich vollumfänglich in eine solche Situation schickt. Bei Ihnen hatte man den Eindruck, Sie hätten sie vom ersten Tag an akzeptiert. Täuscht dieser Eindruck?
Beltrametti: Das ist eigentlich richtig. Ich war einer, der sich schon früh gesagt hat: Hadern mit dem Schicksal bringt nichts. Die Situation ist nun mal so, dass ich gelähmt bin, also muss ich etwas daraus machen. Ich spürte, dass es mir besser ging, wenn ich mich mit der Zukunft beschäftigte und mir stets kleine Ziele setzte. Und ich habe gemerkt, dass ich loslassen musste. Dieser Prozess ist schon in der Reha eingeleitet worden, während der die Neuorientierung begann. Doch brauchte es eine gewisse Zeit, sicher länger als ein, zwei Monate, bis ich sagen konnte: Ich stehe wieder mit beiden Beinen im Leben, ich bin glücklich und zufrieden.
Sie wirken auch so.
Beltrametti: Für mich stimmt das Leben. Dank vielen kleinen Erfolgserlebnissen habe ich Schritt für Schritt meine Selbstständigkeit zurückgewonnen. Klar hat man hin und wieder mal schlechte Tage, die gibt es schon auch. Aber ich bin ein zufriedener und positiv eingestellter Mensch.
Als Sie nach dem Unfall ins Spital von Grenoble geflogen wurden, wollten Sie als etwas vom Ersten Ihre Zwischenzeit vor dem Sturz wissen. Es war Bestzeit. Das schien Ihnen damals sehr wichtig zu sein.
Beltrametti: Das war ein Teil meiner Verarbeitung. Als junger Sportler sind alle meine Visionen, Ziele und Hoffnungen in Sekundenbruchteilen zerstört worden. Deshalb war es am Anfang, in den ersten Wochen, als ich noch mit der Vergangenheit beschäftigt war, eine Genugtuung, zu den Weltbesten gehört zu haben und auf dieser Piste bis zu meinem Sturz der Schnellste gewesen zu sein. Das half mir, loszulassen und mich neu zu orientieren. Das war eine Episode, die mir half, die Trauerzeit zu verkürzen – oder einfacher zu machen. So hart es für mich als junger Sportler war.
Ist diese Phase nun abgeschlossen? Oder ertappen Sie sich manchmal dabei, dass Sie in der Vergangenheit und in Erinnerungen schwelgen?
Beltrametti: Zurückerinnern sicher. Es gibt schon Momente wie Olympische Spiele, Weltmeisterschaften oder die Klassiker in Kitzbühel und Wengen, wo es einem ein bisschen fuchst, nicht am Start stehen zu können. Aber nicht mehr so stark wie in den ersten Monaten oder im ersten Jahr, als ich manchmal kaum Fernsehen schauen konnte, weil es mir so wehtat. Das hat sich inzwischen gelegt. Aber 2014 vor der Abfahrt in Sotschi kommt es vermutlich nochmals hoch. So ein Rennen hätte ich halt schon gerne einmal «gepackt».
Sie arbeiteten einige Jahre als Sportmanager und sind nun Hotelier. Wollten Sie einen Schnitt machen?
Beltrametti: Das hat sich so ergeben: Ich hatte einen guten Berufseinstieg in der Management-Agentur von Giusep Fry und habe dort viel gelernt, so der Aufbau und die Vermarktung von Sportevents wie der Nacht des Schneesports, die es leider nicht mehr gibt. Auch als OK-Präsident der Weltcup-Rennen auf der Lenzerheide kann ich davon profitieren. Seit ich mit meiner Frau Edwina zusammen bin, wuchs jedoch das Bedürfnis, mehr zu Hause zu sein. Dazu hatte ich das Gefühl, den Sport mit seinen Facetten auch etwas gesehen zu haben. Ich vollzog diesen Wechsel sehr gerne. Es ist etwas Neues, Spannendes, das mich tagtäglich fordert. Es läuft auch sehr gut. Das ist schön und befriedigend.
Aber die Bindung zum Skisport haben Sie doch nicht ganz gekappt. Nebst Ihrer Tätigkeit als OK-Chef organisieren Sie Nachwuchsrennen.
Beltrametti: Das ist mir sehr wichtig, denn im Herzen bin ich immer noch Sportler. Das spüre ich auch, wenn ich auf dem Monoskibob mit Kollegen unterwegs bin. Die Skiszene ist eine kleine Familie. Mit ihr bleibe ich gerne verbunden. Und es ist für mich auch eine Bereicherung, den Skisport aus einer andern Optik zu sehen als nur vom Pisten-Herunterfahren.
Sie waren auch ein paar Jahre Politiker, CVP-Gemeinderat, haben dieses Amt aber wieder aufgegeben.
Beltrametti: Das waren drei Jahre, in denen ich gerne mal ausprobierte, wie das ist. Ich habe aber festgestellt, dass ich mich, wenn es um Themen wie Strassenbau, Kanalisation, Stromversorgung oder Zweitwohnungsbau ging, nicht so wohl fühlte. Und ich musste mir eingestehen: Es interessierte mich auch nicht so stark, es war nichts für mich. Man soll die Energie dort einsetzen, wo man stark und kompetent ist – das habe ich aus dem Sport gelernt.
Pflegen Sie noch Kontakt mit Ihren einstigen Rennfahrerkollegen?
Beltrametti: Während der Finalrennen auf der Lenzerheide sieht man sich natürlich, aber darüber hinaus besteht vielleicht noch zu zwei oder drei wie meinem einstigen Zimmerkollegen Franco Cavegn oder Amba Hoffmann engerer Kontakt – und sonst noch mit Dani Albrecht.
Mit ihm zusammen lancierten Sie die Aktion «Never give up». Was ist der Hintergrund dieser Idee?
Beltrametti: Wir beide erhielten viele Briefe, in denen Leute mit ähnlichen Schicksalen uns mitteilten, wir hätten ihnen mit unserer positiven Haltung sehr geholfen. Das ist ein schönes Gefühl. Mit der Aktion «Never give up» (never-give-up.ch) können wir etwas weitergeben und Leute motivieren, nie aufzugeben. Es muss nicht einmal ein Schicksalsschlag oder ein schwerer Unfall sein, es kann auch eine schwierige berufliche oder private Situation oder einfach eine Veränderung im Leben sein, in der sie sich gerade befinden.
Die FIS unternimmt im Moment viel in Sachen Sicherheit und verändert die Taillierung der Ski, was von vielen Athleten kritisiert wird. Ihre Meinung?
Beltrametti: Die Kritik, man könne mich diesen neuen Ski nicht mehr fahren, halte ich für übertrieben. Gewisse Argumente der Athleten wirken etwas oberflächlich im Vergleich mit den Fakten und Studien jener Experten, die sich intensiv mit der Materie beschäftigen. Wenn mit solchen Massnahmen Verschneider und Unfälle verhindert werden können, ist der Ansatz richtig, das auszuprobieren, auch wenn damit nicht alle Probleme gelöst werden können. Wir als Veranstalter von Skirennen sind froh um diese Richtlinien. Wir fühlten uns in Sicherheitsfragen manchmal ein bisschen allein gelassen.
Auch wenn Sie den 8. Dezember als ihren zweiten Geburtstag bezeichnen, Anlass zum Anstossen wird das ja gleichwohl kaum sein?
Beltrametti: Ich stosse dann an, wenn heute Schnee fällt. Darauf sind wir in den Bergen dringendst angewiesen, dass es endlich mit der Saison losgehen kann. Morgen öffnen wir unser Hotel.