Zum Auftakt der Kunstturn-EM in Basel präsentiert sich die Deutsche Sarah Voss im eleganten, schwarzen Ganzkörperanzug und setzt damit ein Zeichen gegen die Sexualisierung des Sports. Dass es das überhaupt braucht, sollte uns zu denken geben. Ein Kommentar.
Wie kaum ein anderer Sport verbindet Kunstturnen Ästhetik und Athletik. Die Turnerinnen schminken und frisieren sich, treten zu Musik auf und tragen dabei oft glitzernde Turndresses, die so eng geschnitten sind, dass sie mehr von den Körpern der meist sehr jungen Mädchen zeigen, als sie verbergen. Mit der Deutschen Sarah Voss brach nun eine 21-Jährige mit diesen Konventionen. Sie trat bei den Europameisterschaften in Basel in einem schwarzen Ganzkörperanzug an. Voss gehört zu einer wachsenden Schar Turnerinnen, die sich schwertun damit, vor Publikum den engen Dress zu tragen, der mehr zeigt, als dass er verbirgt. Weil er tiefe Blicke zulässt. Weil er dazu führt, dass der Turnsport sexualisiert wird - in einer Zeit, in der vermehrt Missbrauch an Turnerinnen öffentlich wird.
Voss sagte danach, viele Mädchen würden sich unwohl fühlen, das Dress zu tragen. «Ich bin froh und stolz, darf ich diesen Anzug tragen und zeigen, dass man auch mit mehr Stoff ästhetisch aussehen kann.» Die üblichen Anzüge sind nicht nur ihr schon länger unangenehm. Den Deutschen geht es um ein persönliches Wohlgefühl und einen Kulturwandel. Nun hoffen sie auf Nachahmerinnen. Voss sagt: «Als Teil der Turn-Nationalmannschaft sind wir für viele jüngere Sportlerinnen auch ein Vorbild.» Viele wüssten gar nicht, dass das Reglement es den Turnerinnen erlaubt, mehr zu tragen.
Dass es dieses Zeichen gegen Sexualisierung im Kunstturnen überhaupt noch braucht, ist im Prinzip ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.
Denn die jungen Frauen haben ihr Schamgefühl nicht eben erst entdeckt. In einem Interview mit der «SonntagsZeitung» sagte Ariella Kaeslin:
«Ich hätte mir oft gewünscht, mehr anziehen zu können. Turnerinnern sind extrem entblösst: Am Balken stehen die Kampfrichter nahe, und für manche Figuren spreizt du die Beine Vollgas gegen die Richter. Das ist unangenehm. Mich hat das immer gestört.»
Selbst in den Trainings unter dem ehemaligen Coach Eric Demay sei es den Frauen nicht erlaubt gewesen, kurze Hosen zu tragen.
Das offenbart zwei Probleme: Erstens hat man den Frauen, die sich nackt fühlten, kein Gehör geschenkt. Zweitens hat man eine Kultur vorgelebt, in der die Kleiderordnung gar nicht in Frage gestellt werden konnte. Das zeigt auch die Reaktion von Giulia Steingruber, die sagte, jede solle in einem Dress turnen, in dem sie sich wohl fühle. «Es ist sehr ungewohnt, ich kenne nur die Gwändli, wie wir sie anhaben.» Zwar finde sie Voss' Dress elegant, liess aber durchblicken, dass sie es selber eher nicht tragen würde.
Beides muss sich ändern: Sportlerinnen, die sich in ihrer Arbeitskleidung unwohl fühlen, müssen gehört werden. Andererseits müssen sie den Kulturwandel mitgestalten. Aktionen wie jene von Sarah Voss sind deshalb noch immer unabdingbar, um alte Denkmuster aufzubrechen. Denn der Reiz des Turnens darf nicht in der Inszenierung der Frauenkörper liegen.