Biathlon
Selina Gasparin über ihre kinderfreie Zeit: «Es war total ungewohnt, plötzlich so viel Zeit zu haben»

Sie ist Teamleaderin, Mutter und Olympia-Zweite. Die multifunktionale Selina Gasparin reist mit der Schweizer Delegation an die Weltmeisterschaften in Oslo.

Mira Güntert, Lenzerheide
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Selina Gasparin kann sich nach ihrer Babypause wieder voll auf den Sport konzentrieren.

Selina Gasparin kann sich nach ihrer Babypause wieder voll auf den Sport konzentrieren.

Keystone

Schwungvoll streift sie sich ihr Sportgewehr vom Rücken, legt sich bäuchlings auf die Matte des Schiessstandes 21 und fokussiert ihr Ziel: fünf kleine Täfelchen, 50 Meter von ihr entfernt. Selina Gasparin legt den Finger auf den Abzug, rückt noch einmal kurz die Laufrichtung zurecht, drückt ab – und trifft. Fünf Mal. Sie hastet wieder auf, buckelt ihr Kleinkaliber und macht sich auf die nächste Runde, ehe sie auf ihren Langlaufski wieder angebraust kommt, um das Duell «Nerven gegen Tafel» ein weiteres Mal in Angriff zu nehmen.

Eine Woche weilten die Schweizer Frauen und Männer auf der Lenzerheide. In der Biathlon-Arena wollten sie ihrer WM-Form den Feinschliff verpassen. Fünf Männer und vier Frauen wurden vom Verband Swiss-Ski für die Weltmeisterschaften in Oslo vom 3. bis 13. März selektioniert. Unter ihnen: Selina Gasparin. Es erstaunt kaum, dass beim Medientreffen von vergangenem Freitag vor allem die Engadinerin im Fokus der Journalisten stand. Die
31-Jährige war es schliesslich, die vor zwei Jahren mit ihrer Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Sotschi erstmals Biathlon-Edelmetall in die Schweiz brachte.

Töchterchen kommt weit herum

Doch nicht nur beruflich hat sich Gasparin auf ein höheres Niveau gehoben, auch im privaten Rahmen hat sich zuletzt einiges getan. Die Bündnerin und ihr Mann, der russische Langläufer Ilja Tschernoussow, sind seit ziemlich genau einem Jahr Eltern. Leila heisst die kleine Tochter, die seither Selina Gasparin von Rennen zu Rennen begleitet. Die Kleine und ihre Nanny kamen dabei schon viel herum: Gemeinsam mit dem Mami lernten sie das schwedische Östersund kennen, besuchten das Hochland Tschechiens und waren bei Gasparins bisher einzigem Weltcup-Podestplatz in dieser Saison im norditalienischen Antholz dabei. Nur in Nordamerika waren sie bisher noch nicht. Die lange Reise an die letzten Weltcup-Rennen vor der WM wollte man Leila nicht zumuten.

«Es war total ungewohnt, plötzlich so viel Zeit zu haben», sagt Gasparin über die kurze kinderfreie Zeit und lacht. Normalerweise ist ihr Tag in der Doppelrolle als Mutter und Athletin ziemlich ausgelastet. «Wieder ‹nur› Athletin zu sein, hat sich schon komisch angefühlt.» So wird Leila in Oslo wieder dabei sein. In jener Stadt im Süden Norwegens, in der es gängig ist, dass die Leute auf Langlaufski zum Einkaufen fahren.

Zum Shoppen reist die Schweizer Delegation jedoch verständlicherweise nicht nach Skandinavien. «Wir wollen unsere Trainingsleistungen im Schiessen und im Laufen abrufen können. Am Tag X wollen wir im Schuss sein», gibt sich Frauen-Nationaltrainer Armin Auchentaller etwas zugeknöpft. Dann aber fügt der Italiener doch noch aus tiefer Überzeugung an: «Selina hat die Möglichkeit, es aus eigener Kraft ganz nach vorne zu schaffen.»

Gibt es in Oslo eine Medaille?

Gerade die Erfahrungen, die Gasparin im Umgang mit dem Bündeln von Konzentration, Nervenstärke und Willenskraft in Sotschi gemacht hat, könnten in Oslo zum Zünglein an der Waage werden. «Wenn alles perfekt läuft», so die Bündnerin, «habe ich an der WM Medaillenchancen.» Als Favoritin würde sie sich aber keinesfalls bezeichnen wollen, beschwichtigt Gasparin und verweist auf das starke, immer enger zusammenkommende Spitzenfeld im Biathlonsport der Frauen.

Zusammen mit den Weltbesten hat sich in den vergangenen Jahren auch Gasparin stetig weiterentwickelt. «Ich fühle mich stärker als noch in Sotschi. Stärker als je zuvor», sagt die 31-Jährige und erklärt, dass sie seit Ende Dezember intensiv an ihrer Schiesstechnik geschraubt hat. «Noch nie zuvor hatte ich am Schiessstand ein so gutes Gefühl.» Eine selbstbewusste Attitüde. «Doch das beste Gefühl nützt nichts, wenn ich es dann am Wettkampf nicht rüberbringen kann», stellt Gasparin klar. Viel Zeit zum Grübeln bleibt ihr aber sowieso nicht mehr. Bereits morgen starten die zehntägigen WM-Wettkämpfe in Oslo.