Startseite
Sport
Der Thurgauer Marco Jäger ist für die Schweizer WM-Hoffnung Julien Wanders mehr als ein gewöhnlicher Trainer. Niemand kennt das Lauftalent, dessen grosses Ziel eine WM-Medaille ist, so gut wie Jäger.
Julien Wanders sei kein Supertalent. „Er ist in erster Linie ein harter Arbeiter.“ Marco Jäger ist der Fachmann schlechthin, wenn es um den Leichtathleten Julien Wanders geht. Er kennt ihn seit dem Kindergarten, trainiert ihn seit dem Teenager-Alter und steht ihm auch für die WM in Doha als Kopf eines inzwischen ansehnlichen Betreuerteams zur Seite.
Doch der 56-Jährige ist kein gewöhnlicher Trainer. Während etwa Sprintcoach Clarence Callender seinem Schützling Alex Wilson kaum von der Seite weicht, pflegt Jäger so etwas wie eine Fernbeziehung zum Genfer Langstreckenläufer.
Das liegt einerseits daran, dass Wanders rund 250 Tage im Jahr auf 2400 Metern Höhe in der kenianischen Läuferhochburg Iten lebt und trainiert. Anderseits entspricht es der Philosophie von Marco Jäger. Selbst wenn sein Athlet wie in diesem Sommer für mehrere Wochen in St. Moritz stationiert ist, lenkt der Trainer die Dinge von Genf aus.
„Schliesslich steht der Athlet im Wettkampf auch alleine auf der Startlinie“, sagt Jäger und betont, dass Wanders früh ein sehr autonomer Sportler war. „Er plant seine Trainings selber.“ Jäger ist nur dann dabei, wenn es notwendig sei. So wie diese Tage als Unterstützung an der WM in Katar.
Je nach Ausgangslage und aktuellen Bedürfnissen telefonieren Athlet und Trainer zweimal pro Woche bis täglich, „sicher nach jeder harten Trainingseinheit“, sagt Jäger. Die zwei verstehen einander blind. Jägers Sohn Joaquim, ebenfalls ein ambitionierter Läufer, ging zusammen mit Julien Wanders in den Kindergarten. Der Vater pflegt deshalb auch engen Kontakt mit den Eltern von Julien. Er bezeichnet das Verhältnis zum Schützling als „familiär“.
Als Julien Wanders 15 Jahre alt war, kam er in die Trainingsgruppe von Marco Jäger. Dieser war als Junior selbst ein ambitionierter Mittelstreckenläufer, wechselte aber früh ins Trainermetier und engagierte sich während seines Betriebswirtschaft-Studiums in St. Gallen beim Stammklub TV Arbon. Als er später in London Jura studierte und bei einem Bankenpraktikum in Genf seine Frau kennenlernte, verlor er die Leichtathletik vorübergehend etwas aus den Augen.
Durch die Ambitionen seiner drei Söhne kehrte er ins Trainermetier zurück und leitet heute die Mittelstrecken-Leistungsgruppe von Stade Genève. Im Sog von Julien Wanders hat sich dort eine vielversprechende Gruppe von rund einem Dutzend talentierten Läufern entwickelt. Zwei von ihnen machen es ihrem Vorbild nach und trainieren phasenweise ebenfalls in Kenia.
Das Aushängeschild bleibt ganz klar Julien Wanders. In Genf wie in Iten ist er der Leader einer Trainingsgruppe und kümmert sich mit seiner sozialen Ader schon fast fürsorglich um sein Team. So reist jeweils eine Gruppe von kenianischen Läufern für Strassenläufe in die Schweiz.
Wanders zahlt ihnen die Unterkunft und Verpflegung und verlangt als Gegenleistung auch keinen Anteil der Erfolgsprämien, wie es bei herkömmlichen „Managern“ von kenianischen Lauftalenten üblich ist. „Ich weiss, Julien redet nicht gerne über diese Sache, aber auch das zeichnet ihn aus“, sagt Marco Jäger.
Neben der Pflege des Teamgedankens charakterisiere seinen Schützling vor allem sein Denken. Dass er sich keine Grenzen setze. „Er kennt keine mentalen Barrieren“. Wanders und Jäger träumen davon, eines Tages dank der Kombination von kenianischer Philosophie und europäischer Akribie sogar noch stärker zu sein als die afrikanischen Läufer.
Zu dieser akribischen Arbeit gehört, dass Julien Wanders auf ein ganzes Team von Fachleuten baut. Neben Ernährungswissenschafter Christof Mannhart und dem Genfer Sportarzt Boris Gojanovic gehören auch ein Physiotherapeut, ein Bio-Mechaniker, ein Mentaltherapeut und Masseure zum Umfeld. Marco Jäger obliegt die Rolle des Koordinators. „Je nach Situation gilt es unterschiedliche Impulse zu setzen“, sagt der Coach.
In die WM startet Wanders am Freitag mit dem Vorlauf über 5000 m. Sein Fokus gilt aber der doppelten Distanz. Über 10 000 m belegt der Schweizer Rekordhalter Platz 10 in der Jahresbestenliste. Nimmt man von den acht vor ihm liegenden Äthiopier die an der WM nicht startberechtigten Läufer heraus, so ist Wanders sogar der Viertschnellste des Feldes.
Doch auch wenn sich der Genfer ganz gewiss eine Medaille zum Ziel setzt, muss man realistisch bleiben. Noch fehlt dem 23-Jährigen die Endschnelligkeit, um sich in einem taktisch gelaufenen Rennen an vorderster Front zu behaupten. Deshalb lag im Training das Augenmerk zuletzt auf der Erhöhung der Schrittfrequenz. Damit verbessern sich seine taktischen Möglichkeiten auf den letzten zwei Bahnrunden eines Rennens.
Bisweilen steht Julien Wanders auch seine Mentalität im Weg. Für ihn gibt es oft nur alles oder nichts. Ziel sei stets das Podium, sagt Jäger. Realisiert der 23-Jährige während eines Rennens, dass er seine hohen Ziele nicht erreichen kann, lässt er sich hängen. „Aber auch das wird besser“, verspricht Jäger.
Mit seinen tollen Leistungen hat Julien Wanders in diesem Jahr so richtig Gefallen an den Wettkämpfen auf der Bahn gefunden. Lausanne sei ein Schlüsselerlebnis gewesen, sagt Jäger. „Da fühlte er sich vom Publikum im Stadion getragen. Ein Gefühl, dass es auf der Strasse kaum gibt.“
Deshalb ist der ursprüngliche Plan, nach den Olympischen Spielen von Tokio auf den Marathon zu setzen, nicht mehr unbedingt sakrosankt. „Konkret haben wir es noch nicht besprochen, aber solange er auf der Bahn noch Ziele sieht, kann ich mir gut vorstellen, dass Julien diese anpeilt. Etwa als erster Schweizer über 5000 m unter 13 Minuten zu laufen. Das bringt ihn auch im Hinblick auf den Marathon weiter. Und dieser läuft ihm nicht davon“, sagt Marco Jäger.