Vladimir Petkovic möchte die Schweizer Nationalmannschaft verlassen. Der 57-jährige Tessiner steht vor einem Wechsel zu Girondins Bordeaux. Sein Wunsch ist verständlich, birgt aber für die Nati einige Gefahren. Eine Analyse.
18 Tage erst sind vergangen, seit die Schweizer Fussballer den EM-Viertelfinal gegen Spanien nach heroischem Kampf im Penaltyschiessen verloren haben. 18 Tage erst – es ist noch immer viel zu wenig Zeit, um realisieren zu können, welch märchenhaften Fussball-Sommer die Schweizer Nationalmannschaft hinter sich hat.
Und nun kommt diese Nachricht: Trainer Vladimir Petkovic will die Schweizer Nationalmannschaft verlassen. Die Franzosen von Girondins Bordeaux haben ihm ein konkretes Angebot vorgelegt. Petkovic hat sich mit dem Verein bereits geeinigt, er möchte einen Vertrag bis 2024 unterschreiben. Was ist davon zu halten?
Zunächst einmal: Noch sind nicht alle Formalitäten erledigt. Noch hat der Schweizer Fussballverband seinem Trainer die Freigabe für einen Wechsel nicht erteilt. Es geht auch um Geld. Das ist gerade im Nachgang zu Corona nicht unwesentlich. Bis zu einer halben Million Franken dürfte es Bordeaux kosten, Petkovic auszulösen. Das ist nicht wenig. Und doch wird es Bordeaux nicht daran hindern, Petkovic zu verpflichten, wenn die Franzosen ihn denn wirklich so dringend wollen, wie es den Anschein macht.
Der SFV schreibt am Montag in einer Stellungnahme: «Am Sonntagnachmittag hat sich der Sportdirektor von Girondins Bordeaux bei unserem Nati-Direktor Pierluigi Tami gemeldet und sein Interesse an unserem Nationalcoach kundgetan. Aktuell laufen Gespräche unter den involvierten Parteien. Fakt ist: Vladimir Petkovic hat einen laufenden Vertrag, der sich im Falle der Qualifikation für die WM automatisch bis Ende 2022 verlängert.»
Nur: Dass sich der Schweizer Verband quer stellt und auf den Vertrag mit seinem Nationaltrainer pocht, ist kaum vorstellbar. In gut einem Monat geht es bereits weiter mit der WM-Qualifikation, Gruppenfavorit Italien ist in Basel zu Gast, danach geht es nach Nordirland, es sind zwei Schlüsselspiele, eine Hängepartie rund um den Nationaltrainer käme äusserst ungelegen. Und darum muss sich der Verband auch fragen: Wie viel Sinn würde es machen, einen Trainer zum Bleiben zu zwingen, der mit seinen Gedanken bereits woanders ist?
Die Geschichte hat zwei Perspektiven. Jene des Trainers ist die eine. Der Wunsch von Vladimir Petkovic, die sich bietende Chance bei Bordeaux zu ergreifen, ist verständlich. Sieben Jahre hat er die Nati nun betreut. 2014 hat er das Team von Ottmar Hitzfeld übernommen. Er hat dessen Erbe zunächst klug verwaltet, danach die Mannschaft sanft entwickelt. Und zuletzt auf ein neues Level gehievt. Drei grosse Turniere stehen in Petkovics Erfolgsbilanz, immer hat er dabei die Gruppenphase überstanden, zweimal schied die Schweiz im Achtelfinal aus, bevor nun der historische Sommer folgte.
Die EM 2021 war unbestritten das Highlight, das noch lange strahlen wird. Die erstmalige Qualifikation für einen Viertelfinal in der Neuzeit, der epische Sieg im Achtelfinal gegen Frankreich, überhaupt die ganze Dramaturgie dieses Turniers – es sind unübertreffliche Momente, das ist sich auch Petkovic selbst bewusst. Gerade erst hat Petkovic den legendären Karl Rappan als Rekordnationaltrainer abgelöst. Seine Verdienste sind gross. Und doch hat Petkovic in weiten Teilen des Landes nie jene Wertschätzung erhalten, die er eigentlich verdient hätte. Er musste sich in den letzten sieben Jahren erstaunlich oft mit Nebenschauplätzen beschäftigen. Nicht immer unverschuldet, aber gewiss manch einmal aus rätselhaften Gründen.
Darum ist es nachvollziehbar, dass Petkovic nun eine neue Herausforderung sucht. Dass er seine Tätigkeit als Nati-Trainer auf dem Höhepunkt Höhepunkt abschliessen möchte, als Sieger ohne Wenn und Aber. Als Trainer, dessen Husarenstück an dieser EM vielleicht jahrzehntelang in Erinnerung bleibt. Auch wenn der Name «Girondins Bordeaux» nicht gerade nach der Aufgabe des Lebens klingt, die Herausforderung beim französischen Traditionsverein ist durchaus reizvoll. Der Verein steckt in der Krise, stand im Frühsommer kurz vor dem Konkurs. Jetzt darf Petkovic eine neue Epoche einläuten. Es ist ihm zu gönnen.
Doch es gibt auch eine andere Perspektive, jene des Schweizer Fussballs und seines Verbandes. Und die lautet: Sollte der Trainerwechsel nun tatsächlich über die Bühne gehen, es wäre ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Einer, der viele Gefahren birgt. Das Nationalteam hat mit Petkovic bestens funktioniert und harmoniert. Die optimale Basis für den intensiven Herbst in dieser WM-Qualifikation war gelegt. Und so sehr frischer Wind von aussen nach sieben Jahren guttun kann, so gross ist auch das Risiko, dass die Angewöhnung zu viel Zeit und Energie in Anspruch nimmt – just zum Zeitpunkt der entscheidenden Spiele im Hinblick auf Katar 2022.
Die Qualifikation dafür ist kein Selbstläufer. Im Gegenteil. Nur der Gruppensieger ist direkt an der WM, Italien ist der Favorit dafür, warum wissen die Schweizer nicht erst seit dem EM-Titel der Azzurri, das 0:3 Mitte Juni im zweiten EM-Spiel war eine schmerzhafte Lehrstunde. Sollte die Schweiz den Umweg über die Barrage bestreiten müssen, dann stehen im März zwei Finalspiele an. Nur mit zwei Siegen wäre die WM in Katar doch noch erreicht. Es ist wahrlich nicht der ideale Zeitpunkt für einen Trainer, um sich einzuleben.
Wie weiter also nach einem Abschied von Petkovic? Das ist die Frage, die sich vorab Pierluigi Tami stellen muss. Kandidaten gäbe es einige. Lucien Favre wäre verfügbar – aber wäre er schon bereit für eine neue Aufgabe oder braucht er weiterhin Pause? Marcel Koller wäre verfügbar – aber steht er beim SFV noch immer so hoch im Kurs wie 2014? René Weiler würde sich die Nati zutrauen und die Aussendarstellung gewiss verbessern – aber mag sich der SFV auf ihn und sein Selbstbewusstsein einlassen? Mauro Lustrinelli wäre als U21-Trainer eine naheliegende Lösung, aber wäre er auch eine gute? Die U21-EM war nicht gerade ein 1A-Bewerbungsschreiben. Auch Urs Fischer – vor allem er! –, Fabio Celestini und Peter Zeidler sind reizvolle Namen, aber sie sind alle derzeit engagiert. Schliesslich stellt sich die Frage, ob nicht Tami selbst die Nati für die kommenden Monate führen soll, immerhin kennt er das Team bestens.
Noch aber heisst der Nationaltrainer Petkovic. Vielleicht bleibt er ja doch noch. Ganz aufgegeben hat Tami die Hoffnung jedenfalls noch nicht – und mit ihm die Schweiz.