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Vom bäuerlichen Kampfsport zu einer nationalen Einigungsbewegung und «Big Business». Noch nie war Schwingen so populär wie heute und das Geld so wichtig geworden. Schwingbegeisterte sehen sich das Gelände schon eine Woche vor dem Fest an.
Geld und Geist. Dieses Stück Weltliteratur des Dichterfürsten Albert Bitzius ist ausgerechnet im Schwingen aktueller denn je. Der Geist ist unverändert stark und trägt heute die coole Bezeichnung «Swissness». Aber nun kommt Geld, viel Geld hinzu.
Das Schwingen ist lange Zeit von der Heimsuchung des Mammons verschont geblieben. Noch 1977 wurde Rudolf Hunsperger, der König von 1966, 1969 und 1974, durch Obmann Ernst Marti aus der Schwinger-Gemeinde exkommuniziert.
Millionen Franken Budget 25
Tonnen Sägemehl 100
Besucher 300'000
Schwinger 278
Wettkampfringe 7
Helfer im Einsatz 4000
Würste 80000
Liter Bier 210000
WC-Container 75
Weil er nach seinem Rücktritt Werbung gemacht und im Circus Knie mit einem Bären gerungen hat. Hunsperger sollte beim «Eidgenössischen» in Basel für Radio Beromünster arbeiten.
Marti verwehrte ihm den Zutritt und drohte, das «Eidgenössische» werde nicht beginnen, wenn sich Hunsperger in der Arena aufhalte. «Rüedu» ignorierte den Zorn des Zwilchhosen-Ayatollahs, schritt stolz an allen Eingangskontrollen vorbei, nahm hinter dem Mikrofon Platz, und das Fest begann.
Für unerlaubte Werbung wurde in den 1980er-Jahren selbst Ernst Schläpfer, König von 1980 und 1983, bestraft. Er durfte eine Saison lang kein Fest ausserhalb seines Teilverbandes bestreiten.
Budget steigt ins Unermessliche
Aber ähnlich wie «Rüedu» sich trotz des Verbotes Zutritt verschafft hat, so ist nun im 21. Jahrhundert das «Big Business» doch ins Schwingen eingezogen.
Und der Eidgenössische Schwingerverband (ESV) belegt die «Bösen» nicht mehr mit dem Bannfluch. Sondern kassiert mit.
Diese Entwicklung zum «Big Business» beginnt in den 1980er-Jahren. Die Zuschauerzahlen beim «Eidgenössischen» haben sich seit 1980 (St. Gallen) von 33 000 auf 52 000 in Burgdorf nahezu verdoppelt.
Das Budget des «Eidgenössischen» (25 Millionen) ist 2013 fünfmal höher, und inzwischen hat die Werbeindustrie das Schwingen entdeckt: Rund 45 Prozent des 25-Millionen-Budgets von Burgdorf werden durch Sponsoren gedeckt.
Beim «Eidgenössischen» 1995 in Chur entdeckte Christoph Blocher als Erster die Werbewirksamkeit des Siegermunis.
Ja, die schlauen Burgdorfer Zwilchhosen-Kapitalisten haben es nun sogar fertiggebracht, im Namen dieses Munis gleich zwei Sponsoren unterzubringen: Für «Fors vo dr Lueg» zahlen der Beizer von der Lueg und ein Futtermittelhersteller. Werbung auf Mann und Muni.
Eintrittspreise haben sich seit 1983 mehr als verdoppelt
Die Eintrittspreise haben sich seit 1983 mehr als verdoppelt: von 112 auf 225 Franken. In Burgdorf kostet ein Ticket für einen gedeckten Sitzplatz erstmals mehr als 200 Franken, und nun gibt es gar VIP-Tickets für sage und schreibe 1250 Franken.
1998 entdeckte auch das Schweizer Fernsehen die Zugkraft des Schwingens. Beim «Eidgenössischen» in Bern schaltete das Fernsehen vor dem Schlussgang auf die Endphase des Formel-1-Rennens in Spa um.
Ein Proteststurm fegte durch Leutschenbach. Seither ist es undenkbar, dass die Formel 1 je wieder das «Eidgenössische» vom Bildschirm verdrängt. Burgdorf 2013 ist längst auch ein nationales TV-Ereignis. Das Moto2-Rennen in Silverstone wird nur live übertragen, weil es exakt in die Mittagspause des «Eidgenössischen» passt.
Diese Entwicklung zum «Big Business» hat das Schwingen nicht durch Werbeaktionen oder Reglementsanpassungen herbeigeführt. Der Hosenlupf läuft seit Menschengedenken nach dem gleichen Grundmuster ab.
Die Zahl der Aktiven ist seit 1895, dem Gründungsjahr des ESV, sogar zurückgegangen: von 3770 auf heute 2930 (siehe Grafik). Es gibt also nicht mehr Schwinger als früher, aber es interessieren sich so viele Menschen wie noch nie fürs Schwingen.
Der Boom kommt von aussen und ist das Resultat gesellschaftlicher Entwicklungen. Diskussionen um die europäische Integration und die Globalisierung führen zu Unsicherheit und einer Besinnung auf die Heimat.
Die Schweizerinnen und Schweizer entdecken das Schwingen als heile Gegenwelt. So ist das «Eidgenössische» nicht nur zum grössten Sportevent im Lande geworden, sondern auch zu einer machtvollen Demonstration schweizerischer Eigenart.
Arena bleibt werbefrei
Von diesem Boom profitieren inzwischen auch die Schwinger. Die Arena bleibt, wie zu den Zeiten unserer Vorväter, nach wie vor werbefrei. Die Sponsoren können sich nur rund um die Arena präsentieren.
Aber nun dürfen die Schwinger als «Posterboys» schweizerischer Wesensart Werbegelder kassieren.
Das statutarisch verankerte Werbeverbot ist mit der Einführung des Werbereglements und einer sogenannten «Reichtumssteuer» im Jahre 2010 offiziell aufgehoben worden. Ein Schwinger darf beliebig Werbung machen, muss aber die Verträge beim ESV deponieren und zehn Prozent der Vertragssumme in die Verbandskasse abliefern.
Jeweils im September schreibt Verbands-Geschäftsführer Rolf Gasser die Rechnung aufgrund der eingereichten Verträge. Auf die Ehrlichkeit der Schwinger kann er bauen:
Schwarz und heimlich werben ist schwerlich möglich. Zur Sicherheit wirft Gasser jeweils, bevor er die Rechnung abschickt, einen Blick auf die Homepage seiner Bösen. Dort sind die Sponsoren fein säuberlich aufgelistet. Schwingen steht also auch für «Swissness» als Form der Geschäftstüchtigkeit und der Fähigkeit zum Kompromiss.
Im letzten Jahr hat der ESV mit dieser «Reichtumssteuer» aus 35 eingereichten Werbeverträgen ziemlich genau 100 000 Franken eingenommen, hat heute ein Jahresbudget von 650 000 Franken und mit Rolf Gasser einen vollamtlichen Geschäftsführer und Chefredaktor der verbandseigenen Zeitung.
Das bedeutet, dass im letzten Jahr 35 Schwinger Werbung gemacht und dafür insgesamt eine Million kassiert haben. Den grössten Teil dieser Summe teilen eine Handvoll Schwinger unter sich auf: die Berner Titanen Kilian Wenger, Matthias Sempach und Christian Stucki sowie Jörg Abderhalden, der nur noch in der Werbung aktive König von 1998, 2004 und 2007.
Nach dem Rücktritt wird ein Schwinger noch drei Jahre lang zum reduzierten Satz von fünf Prozent auf seinen Werbeeinnahmen vom Verband besteuert.
Werbegurus haben wiederholt den Werbewert des Schwingerkönigs viel zu hoch auf eine Million geschätzt. Tatsächlich hat noch kein König mehr als eine halbe Million Werbegelder pro Jahr eingenommen. Auch mit Sägemehl gedüngte Werbebäume wachsen (noch) nicht in den Himmel.