Der 18. Grand-Slam-Titel macht Roger Federer zum Grössten der Geschichte. Weil er ein Gewinner ist, der das Verlieren lernen musste, um wieder zum Gewinner zu werden. Federers Vermächtnis geht weit über Zahlen, Rekorde und Superlative hinaus.
Als Roger Federer die Fassung verliert, hält er noch einen Ball in der Hand. Seine Augen werden grösser, sein Mund öffnet sich, er schreit und sinkt in die Knie. Bis zuletzt wirkt er, als könnte er nicht glauben, was gerade passiert. Sein zweiter Matchball landet auf der Linie. Punkt für Federer, Satz für Federer, Match für Federer, Titel für Federer. Nach einem 6:3, 3:6, 6:1 3:6, 6:4 gegen seinen Erzrivalen Rafael Nadal (30, ATP 9) gewinnt er zum 18. Mal ein Grand-Slam-Turnier. Fast fünf Jahre nach seinem letzten Erfolg in Wimbledon.
That reaction!! @rogerfederer is your #AusOpen 2017 champion! pic.twitter.com/YQIgfoVeHl
— #AusOpen (@AustralianOpen) 29. Januar 2017
Es hätte keinen passenderen Tag, keinen passenderen Gegner und keinen passenderen Ort geben können für die Krönung der märchenhaften Rückkehr. Auf den Tag genau vor einem Jahr hatte Federer sich beim Einlassen eines Bades für seine Töchter den Meniskus im linken Knie gerissen. Die Spätfolgen hatten ihn im letzten Sommer zum Abbruch der Saison gezwungen. Er ist nun der erste Mann, der drei Grand-Slam-Turniere mindestens fünf Mal (7 Mal Wimbledon, je 5 Mal die US Open und die Australian Open) gewonnen hat.
Weil er in der Weltrangliste weit abgerutscht war, musste er mit Berdych, Nishikori, Wawrinka und Nadal vier Spieler aus den Top Ten bezwingen. Nie zuvor war ihm das gelungen. Nie zuvor musste er auf dem Weg zum Titel drei Mal über fünf Sätze gehen. Nun kehrt er heute selber in die Top Ten der Weltrangliste zurück. Er ist nach Novak Djokovic auch der zweite Mann, der die Schallmauer von 100 Millionen Preisgeld durchbricht. 13 Jahre nach seinem ersten Sieg in Melbourne hält er eine ganze Kaskade von Rekorden.
Gleichzeitig werden Zahlen, Statistiken und Superlative Roger Federers Vermächtnis nicht gerecht. Die Suchmaschine Google spuckt über 30 Millionen Referenzen aus, auf Youtube befassen sich über eine halbe Million Videos mit ihm. Die Online-Buchhandlung Amazon führt über 11’000 Titel, die sich ausschliesslich oder teilweise mit ihm beschäftigen. Sie tragen Namen wie «Roger and Me: Story of an Obsession», «Spirit of a Champion» oder «Das Tennisgenie», das Standardwerk des Journalisten René Stauffer, das alleine in der Schweizer über 30’000 Mal verkauft und in neun Sprachen übersetzt wurde.
Der inzwischen verstorbene Schriftsteller David Foster Wallace erhebt Federer in einem Essay für die «New York Times» zur religiösen Erfahrung. Federer sei eine fast schon metaphysische Erscheinung. Nie sei er aus der Balance. Seltsam entkörpert schwebe er über den Platz. «Man sollte perfekt spielen können», sagt er 1995 als 15-Jähriger. «Für ihn war der Weg das Ziel, und der Weg bestand darin, die Bälle mit seinem Schläger möglichst perfekt zu treffen und zu platzieren. Davon schien er besessen zu sein. Er wollte in diesem Rechteck mit dem Netz, das ihn so faszinierte, nicht den Gegner beherrschen, sondern den Ball, den er gleichzeitig liebte und hasste», schreibt Stauffer in «Das Tennisgenie».
Obwohl uneingeschränkt bewundert, entwächst Federer in der Blüte seiner Schaffenskraft der Schweiz, wo alles geordnet, wo alles vielleicht auch ein wenig provinziell angehaucht erscheint. Es ist die Zeit, in der Roger Federer zum Unfassbaren wird. Ausdruck dessen ist, dass er 2005 zwar zwei Grand-Slam-Turniere gewinnt und zum Weltsportler gewählt wird. Schweizer Sportler des Jahres aber wird aber der Berner Motorradfahrer Tom Lüthi. Möglicherweise fällt es den Schweizern immer schwerer, Federers Lebenswelt zu verstehen, Sie erkennen sich wieder in Beat Feuz, dem Bauernsohn mit den kaputten Knie. Oder in Fabian Cancellara, dem Radfahrer mit dem hölzernen Englisch. Bei Federer aber ist alles perfekt. Er parliert gekonnt in den Landessprachern, in perfektem Englisch. Er beherrscht die gesamte Klaviatiur der Konversation, egal ob Staatsoberhaupt oder Anhänger.
Roger Federer aus Münchenstein, Baselland, wohnhaft in Valbella, Graubünden, mit Wohnsitz in Dubai, Vereinigte Arabische Emirate, wird ein Weltbürger. Doch die letzten Monate, in denen er sich an das Verlieren gewöhnen muss, in denen sein Körper immer öfter den hohen Belastungen Tribut zollt, machen ihn wieder fassbarer. Sie zeigen eine ungewohnte, wenn auch nicht gänzlich unbekannte Seite des Baselbieters. Federer, der Verletzliche. Federer, der Verwundbare. Federer, der Verlierer. Federer, ein Gewinner, der gelernt hat, zu verlieren und ein Verlierer, der durch harte Arbeit wieder zum Gewinner wird.
Um 23.40 Uhr Ortszeit erhält er wie schon 2006 aus den Händen von Rod Laver den Pokal. Wieder zeigt er grosse Emotionen. «Mir fehlen die Worte. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde», sagt er und bedankt sich bei seinem Team. Bei seiner Ehefrau Mirka, bei seinen beiden Trainern, Severin Lüthi und Ivan Ljubivic, beim Physiotherapeuten Daniel Troxler, bei Manager Tony Godsick. Und er bedankt sich auch beim Publikum. In einer Form, die viele als Abschiedsworte verstehen. Nicht so Federer: “Ich hatte das Gefühl, dass es der Moment ist, um Dankbarkeit zu zeigen.” Er habe noch viel Tennis in sich, aber er wisse ja nicht, ob er jemals wieder hier spielen könne. Ob sein Körper das noch einmal zulasse.
Roger Federer ist jetzt der Grösste der Geschichte. Nicht trotz der letzten Monate, sondern gerade wegen ihnen.