Warum die Tour de France, aber nicht die Heim-WM stattfindet

Die Weltmeisterschaft in Aigle und Martigny hätte ein Rad-Fest werden sollen. Stattdessen ist die Ernüchterung nach der Absage gross.

Raphael Gutzwiller
Drucken
Hätte an der Heim-Weltmeisterschaft eine Medaille holen wollen: Stefan Küng.

Hätte an der Heim-Weltmeisterschaft eine Medaille holen wollen: Stefan Küng.

Bild: Sebastien Nogier/EPA (12. März 2020)

Es ist das nächste Highlight, das nicht stattfinden kann: die Strassenrad-WM in Aigle-Martigny, die Ende September hätte steigen sollen. Nachdem der Bundesrat die 1000er-Grenze auf Anfang Oktober aufgehoben hat, wurde die WM abgesagt. Der Welt-Radsportverband UCI sucht nach einem Ausweichort.

Die Absage der Strassenweltmeisterschaft ist ein harter Schlag für die Schweizer Radszene. Mit Marlen Reusser und Stefan Küng im Zeitfahren sowie Stefan Bissegger bei der U23 hätte es einige Medaillenkandidaten gegeben. Sportdirektor Thomas Peter bedauert den Entscheid: «Es ist schade, weil Medaillen an der Heim-WM möglich gewesen wären. Zudem hätte es unter normalen Vorzeichen bestimmt ein grosses Fest gegeben.» Das Fest fällt nun einem Virus zum Opfer.

Tour de France im Zielraum vor 5000 Zuschauern

Würde für Aigle und Martigny kein Ersatz gefunden, gäbe es Luft im gedrängten Rennkalender. Das WM-Zeitfahrrennen hätte gleichzeitig wie die letzte Etappe der Tour de France stattfinden sollen.

Während die Heim-WM dem Coronavirus zum Opfer fiel, ist die wichtigste Radrundfahrt noch immer geplant. Es sollen gar bis zu 5000 Fans im Zielraum zugelassen werden. Warum ist die Tour de France möglich, die Rad-WM aber nicht? «Die Ausgangslage ist eine andere», sagt Peter. «An der Tour de France fährt man von A nach B. Die Zuschauer verteilen sich auf eine viel grössere Fläche. Zudem ist die Grösse der Profiteams überschaubar. An einer WM gibt es dagegen mehrere Kategorien. Dadurch kommt es automatisch zu einer grösseren Durchmischung.»

Die Radprofis sind derzeit an der Critérium du Dauphiné und ab heute an der Lombardei-Rundfahrt im Einsatz. Dass diese Rennen stattfinden, ist auch Druck zu verdanken. Die Teams stecken in finanziellen Schwierigkeiten und drängten auf die Durchführung. Dies gilt insbesondere für die Tour de France. Rund 70 Prozent ihrer Einnahmen generieren die World-Tour-Teams dank der französischen Rundfahrt. Sportlich steigt dadurch das Niveau, sagt Peter. «Viele fahren um einen Vertrag und geben alles.»

Wie flexibel die Athleten 2020 sein müssen, zeigt das Beispiel von Stefan Küng. Zunächst hatte der WM-Bronzemedaillengewinner des letzten Jahres die Teilnahme an den Europameisterschaften in Plouay Ende August abgesagt. Nun kommt alles anders. Küng sagt, die Enttäuschung über die Absage der Heim-WM sei «gewaltig» gewesen. «Ich hatte geplant, Tour de France und WM zu kombinieren. Die EM hätte unter diesen Voraussetzungen nicht ins Programm gepasst. Ohne WM sieht es anders aus. Nun kann ich EM und Tour de France verbinden.»

Wie die Absage für Swiss Cycling und die Organisatoren finanziell zu werten ist, ist derzeit noch schwierig abzuschätzen. Markus Pfisterer, Geschäftsführer von Swiss Cycling sagt: «Das werden wir in den nächsten Tagen und Wochen besprechen.» So gibt es unter anderem Fragezeichen nach den Fördermassnahmen im Hinblick auf jene abgesagte WM und jene 2024 in Zürich.

Bereits weit nach vorne blickt das Organisationskomitee von Aigle-Martigny. Co-Präsident Alexandre Debons sagt in der «Nouvelliste», dass die Organisatoren sie nicht aufgeben. «Wenn es nach mir ginge, würden wir sofort einen neuen Antrag auf eine andere Weltmeisterschaft stellen», sagt er. «Das nächste offene Fenster ist zwar erst für 2028, aber wenn es zu einem Rückzug eines Veranstalters kommt, sind wir bereit.»

Die Mountainbike-EM im Tessin ist der Ersatz

Während die Strassen-WM womöglich in einem anderen Land ausgetragen wird, findet gleichwohl ein Rad-Grossanlass in der Schweiz statt. Vom 15. bis am 18. Oktober steigen am Monte Tamaro im Tessin die Europameisterschaften im Mountainbike. Ursprünglich hätte die EM im Mai in Graz stattfinden sollen. Möglich ist dies, weil die Veranstaltung nicht mit der Grösse der Strassen-WM vergleichbar ist. «Zudem ist es im Mountainbike viel einfacher, das Areal abzusperren», sagt Pfisterer.

Die Titelkämpfe im Tessin werden wohl nur wenige Fans sehen können, aus sportlicher Sicht wird es aber interessant. Normalerweise fehlen die Topstars, allen voran Nino Schurter, an Europameisterschaften. Im speziellen Jahr 2020 könnte das anders sein. Und so gibt es vielleicht doch noch ein Rad-Fest in der Schweiz. Einfach auf einer anderen Unterlage.