Montagsinterview
Jan Ullrich: «Wenn ich nicht an das Gute im Radsport glaube, dann tut es keiner»

Mit dem Tour-de-France-Sieg 1997 wurde aus Jan Ullrich, dem Jungen aus Rostock, ein Held der wiedervereinten Republik. Doch so steil sein Aufstieg, war auch sein Fall.

François Schmid-Bechtel
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Jan Ullrich nimmts heute gemächlicher
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Deutschlands Radsport-Legende Jan Ullrich im Montagsinterview
Jan Ullrich

Jan Ullrich nimmts heute gemächlicher

Sandra Ardizzone

Jan Ullrich schaut interessiert auf das Blatt mit dem Gekritzel. «Das ist der Fragebogen meines Sohnes», erkläre ich. «Wie alt ist Ihr Sohn?», fragt Ullrich. «Drei.» «Ah, wie mein Jüngster», sagt Ullrich. Was für eine entspannte Gesprächsatmosphäre! Das wäre vor ein paar Jahren noch anders gewesen. Spätestens als Ullrich 2006 einen Tag vor dem Start zur Tour de France von seinem Team wegen des Verdachts des Dopingkonsums suspendiert worden ist, degradierte die Öffentlichkeit den Star von einst zum hinterhältigen Betrüger. Und Ullrich? Der zog sich in sein Reduit am Bodensee zurück.

Jan Ullrich nimmts heute gemächlicher

Jan Ullrich nimmts heute gemächlicher

Sandra Ardizzone

Sie sehen fit aus. Steigen Sie noch aufs Rad?

Ja, ich fühle mich gesund. Letztes Jahr kam ich auf 11 000 Kilometer. Die Velo-Camps, die ich weltweit organisiere, dauern von Ende März bis Ende Oktober. Und im Winter fahre ich viel Ski.

Verglichen mit früher?

Kein Vergleich. Als Radprofi habe ich 40 000 Kilometer pro Jahr abgespult. Ich war zehn Kilo leichter, hatte ein grösseres Herz und eine grössere Lunge. Es ist viel, viel weniger geworden.

Zur Person: Jan Ullrich

Als erster und bislang einziger Deutscher hat Jan Ullrich 1997 die Tour de France gewonnen. Damit wurde der heute 42-Jährige in Deutschland zu einem der populärsten Sportler überhaupt. Doch Ullrichs Leben im Scheinwerferlicht wurde zur Achterbahnfahrt. Sportliche Glanzleistungen stehen diversen Eskapaden wie dem Ecstasy-Konsum oder Unfällen in alkoholisiertem Zustand gegenüber. 2006 wurde der in Rostock geborene Ullrich wegen des Verdachts auf Dopingmissbrauch von seinem Team suspendiert. Ein Jahr später erklärte er seinen Rücktritt. Ullrich organisiert heute Velo-Camps und wohnt mit seiner Frau Sara und seinen drei Söhnen in Scherzingen TG.

40'000 Rad-Kilometer pro Jahr. Wie ist das machbar?

Heute frag ich mich das manchmal auch. Trotz des Stresses, trotz der Reisen überhaupt 40'000 Kilometer zu fahren, braucht viele Jahre Vorbereitung. Ich habe mit neun Jahren angefangen. Da war vieles noch eine Spielerei. Aber die Belastung wurde immer mehr und mehr und man gewöhnt sich irgendwann daran. Und bis man ins Profigeschäft einsteigt, hat man eine Entwicklung von 15 Jahren hinter sich. Ausserdem bringt jeder Profi ein grosses Talent für den Sport mit. Mein Glück war, dass ich noch etwas mehr Talent hatte als andere.

Wie ist es, wenn aus dem Jungen des Ostens ein Held der gesamten Republik wird?

Das war nicht leicht für mich. Aber ich bin genauso reingewachsen, wie ich auch ins Profimetier reingewachsen bin. Im Kleinformat habe ich die Begleiterscheinungen schon als Amateur-Weltmeister erlebt. Aber natürlich: Der Sieg an der Tour de France von 1997 hat alles gesprengt. Plötzlich standen nicht mehr Hunderte Menschen bei Autogrammstunden da, sondern Tausende. Und plötzlich sprang ich auf dem «Bambi» und anderen Galas rum und lief zwischenzeitlich Gefahr, in die Party-Welt abzurutschen. Es gab sogar einen Winter, da habe ich mehr Wochenenden auf Partys als im Training verbracht.

Bestand im Hype jemals die Gefahr, dass Sie die Liebe zum Radsport verlieren?

Nein, die Liebe nie. Aber die Doppelbelastung öffentliche Person und Radprofi wurde schon extrem. Es gibt viele Radprofis, die auch gut sind, aber nach den Rennen mehrheitlich in Ruhe gelassen wurden.

Haben Sie diese Fahrer beneidet?

Vielleicht. Ich habe zwar immer gesagt, es muss weniger Öffentlichkeitsarbeit werden. Denn ich kann nicht bis Mitternacht Interviews geben und am nächsten Tag eine Königsetappe der Tour de France bestreiten. Aber das war meist Wunschdenken. Meine Ruhephase bestand meist darin, Sponsoring- oder Pressetermine wahrzunehmen, während andere Fahrer in ihrem Hotelzimmer schliefen. Deshalb war es nach meinem Tour-Sieg nie mehr so leicht, Rennen zu gewinnen. Die Leistung hat unter dem Hype gelitten.

Jan Ullrich

Jan Ullrich

Sandra Ardizzone

Fünfmal Zweiter bei der Tour de France – wie übersteht man das?

Ich habe das immer mit dem Golf verglichen. Von zehn Schlägen gelingt mir vielleicht nur einer wunschgemäss. Aber dieser eine gelungene Ball gibt mir wieder Motivation für die nächsten Minuten. Klar, als die Dopingvorwürfe kamen, ich suspendiert und im Stich gelassen wurde, entwickelte sich eine Hassliebe zum Radsport. Ich konnte keine Rennen mehr am Fernsehen schauen, habe mein Rad kaum mehr bewegt. Glücklicherweise hat inzwischen der Hass wieder der Liebe zu diesem Sport Platz gemacht.

Dreimal wurden Sie hinter Lance Armstrong Zweiter. War der Amerikaner dieses Ekel, als das er von vielen Fahrern beschrieben wurde?

Wir hatten zwar sehr wenig Kontakt, sind aber immer respektvoll miteinander umgegangen. Ich kann mich nicht beklagen. Denn als einer von ganz wenigen hat er mich öffentlich sogar gelobt. Über Smalltalk sind wir aber nie hinausgekommen.

Wie haben Sie Armstrongs tiefen Fall miterlebt?

Ich habe mir angewöhnt, dass ich solche Geschichten nicht lese, mich nicht darüber informiere.

Warum blenden Sie bei negativen Berichten aus?

Weil ich so leichter lebe und mich nicht beeinflussen lassen will.

Schauen Sie noch Tour de France? Haben Sie Frieden geschlossen?

Ja, ich schaue wieder. Natürlich habe ich persönliche Enttäuschungen erlebt. Natürlich hat der Sport ein Dopingproblem gehabt. Aber mit dem Sport an sich hatte ich nie Probleme. Nur mit manchen Leuten. Wenn man wie ich so viel für ein Team geleistet hat und plötzlich im Stich und fallen gelassen wird, ist das schwer zu akzeptieren. Ausser meiner Familie und einigen guten Freunden haben mich alle, die sich zuvor Freunde genannt haben, allein gelassen.

Verliert man dann den Glauben an das Gute im Menschen?

Ich habe versucht, diesen Glauben nicht zu verlieren.

Wie schafft man das?

Indem man realisiert, dass es viele Menschen gibt, bei denen es sich lohnt, wenn man sich öffnet. Die Alternative wäre gewesen, ein Griesgram zu werden und keinen mehr in mein Herz zu lassen. Dann hätte ich aber keine neuen Freunde gewonnen.

Deutschlands Radsport-Legende Jan Ullrich im Montagsinterview

Deutschlands Radsport-Legende Jan Ullrich im Montagsinterview

Sandra Ardizzone

Die Medien waren enge Begleiter. Im Erfolg wie im Misserfolg. Was kritisieren Sie an den Medien?

Ach. Es ist ganz oft passiert, dass ich falsch dargestellt worden bin. Es ist auch ganz oft passiert, dass mich Medien bewusst reingelegt haben. 20 Fragen, um eine gute Ambiance zu schaffen und die 21. Frage war dann eine Reinleger-Frage. Das habe ich sehr oft erlebt. Und die Journalisten zielten nur auf diese 21. Frage. Die 20 anderen Antworten wurden ausgeblendet. Die wollten mir nichts Gutes. Ich wurde nur auf Doping und Betrug reduziert. Und Paparazzi mag ich überhaupt nicht.

Erzählen Sie.

Ich verstehe diese Leute nicht. Wenn ich jemanden fotografiere, frag ich ihn doch vorher, ob ich ihn fotografieren darf. Meine Ex-Freundin hat richtig darunter gelitten, weil sie irgendwann hinter jeder Hecke Paparazzi vermutete. Die haben sich sogar in Mülltonnen vor unserem Haus versteckt. Jedes dieser Fotos wurde negativ gegen mich verwendet. Das hat nichts mit Journalismus zu tun. Wenn man nur nach der Devise «bad news is good news» lebt, kann und will ich das nicht akzeptieren. Viele Sportler nehmen es hin, wenn es heisst, bad news verkaufen sich besser. Ich kapiere das nicht.

Was ist das für ein Gefühl, wenn jeder Mensch, dem Sie begegnen, Ihre Fehler kennt. Wenn jeder weiss, dass Sie gedopt haben, mehrere Unfälle in alkoholisiertem Zustand verursacht haben oder während einer Wettkampfpause mal mit Ecstasy erwischt worden sind.

Im Fokus der Öffentlichkeit zu leben, musste ich schon als junger Mensch lernen. Ich habe versucht, es mir so erträglich wie möglich einzurichten. Ganz wichtig in diesem Kontext war der Umzug von Deutschland in die Schweiz. Ich hatte in Deutschland null Privatsphäre. Ich konnte nicht ins Kino, nicht ins Restaurant. Boris Becker hat mal einen guten Satz gesagt: «Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so viel Geld verdienen muss, um die Sicherheit für meine Familie bezahlen zu können.» Das brauchte ich Gott sei Dank nicht.

Ist es Ihnen egal, was die Menschen über Sie denken?

Nein, auf keinen Fall. Viele Dinge, die vorgefallen sind, bestätigen mich als den Menschen, der ich bin. Denn ich bin Sportler geworden, und nicht Schauspieler. Es gibt zwar Sportler, die gute schauspielerische Leistungen zeigen. Aber das wollte ich nie. Vor meinem ersten Fernseh-Interview, ich war etwa 18, habe ich mir alle Antworten zurechtgelegt. Doch das ist voll daneben gegangen. Da hab ich mir geschworen, dass ich mich nie mehr verstellen werde.

Warum sind Sie dann nie hingestanden und haben den Dopingmissbrauch gestanden?

Hab ich doch.

Schon. Aber erst sechs Jahre, nachdem Sie von Ihrem Team suspendiert worden sind.

Wenn man es nicht selbst erlebt hat, kann man sich gar nicht vorstellen, was in einer solchen Situation alles auf einen einprasselt. Mir blieb nach der Suspendierung einen Tag vor dem Tour-Start 2006 gar nichts anderes übrig, als erst mal den Kopf einzuziehen. In Deckung zu gehen. Ein Interview zu führen, wie ich es heute mit Ihnen mache, war damals absolut nicht drin. Ich wusste, auch wenn ich ehrlich mit den Journalisten rede, kommt nichts Gutes dabei heraus. Ausserdem war ich geschockt, weil ich die Tour nicht bestreiten durfte. Ich hab ja dann die Konsequenzen gezogen und meine Karriere beendet.

Sandra Ardizzone

Nochmals, warum haben Sie nicht gleich nach der Suspendierung gestanden?

Nun, was hätte ich gestehen sollen.

Den Dopingmissbrauch.

Das lässt sich so einfach sagen. Es hat sechs Jahre gedauert, ehe der internationale Radsportverband UCI eine Strafe gefunden hat und der internationale Sportgerichtshof ein Urteil gesprochen hat. Das waren lange Jahre der Ungewissheit, aber auch der Hoffnung. Es stand alles offen: Krieg ich jetzt eine Strafe oder nicht?

Wieso war es für Sie wichtig, ein Urteil zu bekommen, wo Sie doch schon sechs Jahre aus dem Sport raus waren?

Ich wollte Antworten. Ich brauchte eine Ziellinie. So ist das Wesen des Radfahrers. Es ist etwas gestartet, was auf mich eingestürzt ist, da braucht es doch eine Ziellinie. Für mich musste die Angelegenheit beendet werden. Denn ich mag keine unbeendeten Sachen.

Wurde Ihnen das Leben genommen, als Sie im Juni 2006 einen Tag vor dem Tour-Start von Ihrem Team wegen des Verdachts auf Dopingmissbrauch suspendiert worden sind?

Nein, das Leben wurde mir nicht genommen. Aber nur ein Radprofi weiss, wie anstrengend so ein Leben als Radprofi ist. Wie viele Entbehrungen dazu gehören. Wie viel Druck auszuhalten ist, wenn man zehn Jahre auf höchstem Niveau fährt – erst recht in Deutschland. Man ist 300 Tage im Jahr unterwegs, kann keine Familie gründen. Dann hast du alles für den Erfolg gemacht, und denkst, du hast nichts Falsches gemacht und willst natürlich ernten. Und du bist mit der Hand schon an der Frucht, denn ich war in absoluter Top-Form. Ich glaube, ich hätte 2006 die Tour gewonnen. Doch dann wird dir Knall auf Fall alles genommen.

Von Ihren Teamverantwortlichen und Sponsoren, die viele Jahre von Ihnen profitiert haben.

Ja, klar. Das ist doppelt bitter. Jeder Profisportler wünscht sich einen versöhnlichen Ausstieg. 2006 wäre meine letzte Tour gewesen. Es hätte ein grosser Abschied werden sollen.

Was, wenn einer Ihrer Jungs kommt und sagt: «Papa, ich will Radprofi werden?»

Das würde ich voll unterstützen.

Echt?

Warum nicht? Wenn sie das Talent von mir haben, ist sehr viel möglich.

Wie können Sie noch an das Gute im Radsport glauben?

Wenn ich nicht an das Gute im Radsport glaube, tut es keiner. Es ist ja nicht nur der Radsport: Auch andere Sportarten oder die Wirtschaft kann böse sein. Wenn die Jungs wollen und mit einem Talent geboren werden, ist der Sport doch ein Geschenk. Wir üben niemals Druck auf die Jungs aus. Die machen im Moment sowieso alles ausser Radsport. Aber das ist egal. Hauptsache, sie machen Sport. Körper und Geist, das hängt zusammen. Wer sich nicht bewegt, hat sein Leben nicht gelebt.

Der legendäre Eddy Merckx sagte einst: «Wenn Ullrich in Belgien aufgewachsen wäre, hätte er mindestens dreimal die Tour gewonnen. Es liegt alles nicht am Körper, sondern am Kopf.» Oder: «Jan ist ein netter Kerl, aber ihm fehlt dieser zerstörerische Ehrgeiz, wie ihn Armstrong besitzt.» Ist da was dran?

Ich war schon fokussiert, aber für mich war das Resultat nicht alles. Da ich schon einen Tour-Sieg hatte, ging für mich die Welt nicht unter, wenn ich Zweiter geworden bin. Da gibt es andere Fahrer, die wollen auf Biegen und Brechen diese Erfolge permanent einfahren. Nur: Ich habe alles einmal gewonnen, was man gewinnen kann. Deshalb bin ich sehr zufrieden mit meiner Karriere.