Nach Zeitfahren-Silber an den Olympischen Spielen und an den Weltmeisterschaften sowie Gold an den Europameisterschaften gehört Marlen Reusser auch im WM-Strassenrennen zu den Favoritinnen. Die grosse Frage: Wie viel Energie hat sie noch?
Sie war Präsidentin der Jungen Grünen im Kanton Bern, kandidierte für den Nationalrat und studierte Medizin. Erst vor knapp fünf Jahren löste Marlen Reusser ihre erste Radsport-Lizenz – und gewann im gleichen Jahr ihren ersten nationalen Titel.
Zwei Jahre lang arbeitete sie parallel als Assistenzärztin, ehe sie ab 2019 bedingungslos auf den Sport setzte, und auf den elterlichen Bauernhof in Hindelbank im Emmental zurückzog, um Geld zu sparen. 2020 wurde sie Vize-Weltmeisterin, in diesem Sommer gewann sie an den Olympischen Spielen Silber, wurde Europameisterin und Anfang Woche erneut Vize-Weltmeisterin – alles im Zeitfahren.
Marlen Reussers Aufstieg an die Weltspitze war nicht nur atemberaubend schnell sondern auch deshalb faszinierend, weil sie dabei ihr neugieriges Wesen bewahrt hat und vieles offen hinterfragt, was für ihre Kolleginnen, die im Leistungssport sozialisiert wurden, selbstverständlich erscheint. Wegen abgemagerten Teamkollegin schickte die 30-jährige Reusser Briefe an Verantwortliche im Weltverband des Radsports UCI. Sie plädiert für eine Untergrenze beim Body-Mass-Index BMI. Wer diese unterschreite müsse zum detaillierten Gesundheitscheck und mit einer Sperre rechnen. Auch zu gesellschaftlichen und politischen Themen äussert sich Reusser.
Neben den physischen Voraussetzungen – nach den Olympischen Spielen in Tokio sagte sie: «Wir haben alle sehr schnell begriffen, dass ich einen riesen Motor habe» – dürfte eine andere Eigenschaft ein Faktor gewesen sein, die ihre steile Karriere im Leistungssport wesentlich begünstigt hat: Marlen Reusser ist wie ein Schwamm, der alles aufsauget.
Das zeigt sich bei ihrer Detailversessenheit bei der Entwicklung des optimalen Fahrrads mit Ingenieuren aus der Formel 1, aber auch, wenn es darum geht, zu verstehen, wie Stefan Küng (27) oder Marc Hirschi (23) sich auf das WM-Strassenrennen in Flandern vorbereiten. Als die beiden Schweizer am Freitag zu ihrem Rennen Auskunft geben, hört Reusser aufmerksam zu.
Auch wenn die Bernerin am Samstag bereits ihr drittes Strassenrennen bei Weltmeisterschaften bestreitet (2019 belegte sie in Yorkshire Rang 34, im Vorjahr in Imola Rang 10), wirkt sie neben den Jüngeren Küng und Hirschi immer noch wie eine Novizin. Sie sagt: «Es ist verrückt, was in den letzten Monaten in meinem Leben alles abgegangen ist. Ich kann es kaum fassen.»
Für das rasante Tempo, das Marlen Reusser in ihrem Leben angeschlagen hat (neuerdings macht sie auch noch eine Ausbildung in Sporternährung), zahlt sie auch einen Preis: Irgendwann erreichen auch ihre Batterien das Ende ihrer Laufzeit. Irgendwann ist der Schwamm vollgesogen. Hat sie diesen Zeitpunkt ausgerechnet jetzt, an den Weltmeisterschaften, erreicht?
Ja, befürchtet Reusser. Im Zeitfahren vom Montag hatte sie an ihrem 30. Geburtstag nur ein Ziel: Gold. Als sie die Ziellinie überquerte, hatte sie sich am Ziel ihrer Träume gewähnt, doch Reusser war nur Zweite. «Ein Schock und eine Enttäuschung», sagte sie und musste die Tränen unterdrücken. «Das ist nicht der Grund, weshalb ich hergekommen bin.» Am Mittwoch folgte der nächste Tiefschlag in einer Karriere, die nur eine Richtung zu kennen schien: nach oben. Im Mixed-Zeitfahren verpasste die Schweiz den Bronzerang um 5 Hundertstelsekunden – weniger als ein Wimpernschlag.
Und nun am Samstag das Strassenrennen, eine Prüfung über 157 Kilometer von Antwerpen nach Leuven, bei der etwas mehr als 1000 Höhenmeter zu bewältigen sind. Wenig selektiv, urteilt Reusser. Auch wenn sie sich im Feld inzwischen deutlich wohler fühlt, hat sie als Quereinsteigerin technische Defizite und bevorzugt Strecken, auf denen sie ihre physischen Vorteile ausspielen kann. Welche Rolle Reusser im sechsköpfigen Schweizer Team, dem auch Elise Chabbey, Nicole Koller, Noemi Rüegg, Caroline Bauer und Mountainbikerin Sina Frei angehören spielt, ist noch offen. Sprich: Hängt wohl im Wesentlichen davon ab, ob Reusser noch genügend Energie hat.
Auf die Frage danach gibt Marlen Reusser eine entwaffnend ehrlich zu: «Ich versuche gar nicht, es schönzureden: Langsam bin ich müde, vor allem nach diesen beiden Rennen und dem Einzelzeitfahren, das so ein grosses Ziel von mir war. Ich war schon motivierter im Leben.»
Auch die Rolle der Kapitänin ist für Marlen Reusser noch ungewohnt. «Ich muss lernen, Verantwortung abzugeben und mich auch weiter hinten im Feld zu bewegen», sagt sie. Doch Zurückhaltung entspricht nicht ihrem Naturell. Sie sagt: «Ich bin keine Prinzessin, die sich sagt: macht ihr Mal. Ich helfe gerne mit und nehme die Sache gerne selber in die Hand.»
Deshalb würde es nicht überraschen, wenn Reusser am Samstag wieder mit allen Konventionen bricht und die letzten Reserven mobilisiert, um als erste Schweizerin seit Barbara Heeb 1996 in Lugano Weltmeisterin zu werden. Ist das möglich? Auch diese Antwort ist entwaffnend ehrlich: «Ja!»