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Nach ihrem Kreuzbandriss im Juli 2018 kämpft Giulia Steingruber (24) um mehr als nur um die Fortsetzung ihrer Karriere.
Es geht ihr um Grundsätzliches, nicht um Medaillen, nicht um Siege. Klar, das auch. Aber nach den vergangenen Monaten sind andere Dinge in den Vordergrund gerückt. Kürzlich hat sie ihre Maturarbeit eingereicht, Titel: «Der Weg zum neuen Element.»
Von solchen Gedanken ist Giulia Steingruber derzeit weit entfernt. Am 8. Juli hat sich die Olympia-Dritte im Sprung bei der Landung nach einer Diagonalen das Kreuzband im linken Knie gerissen und den Meniskus angerissen. «Sicher habe ich einmal an Rücktritt gedacht», sagt sie, habe den Gedanken aber schnell wieder verworfen. Sie sei noch nicht bereit, das Turnen loszulassen. «Es ist noch immer meine Leidenschaft und ich habe meine Ziele.» Sie nennt die Olympischen Spiele in Tokio 2020, aber auch die Weltmeisterschaften im nächsten Jahr, wo sie ihr altes Niveau wieder erreichen will.
Ob sie dieses wieder erreicht, mag sie nicht beantworten. «Ich weiss es nicht. Es geht mir in erster Linie darum, ins Turnen zurückzukommen.» Sie habe derzeit enormen Respekt vor den Landungen, obwohl sie wisse, dass ihr Knie halte. «Aber ich weiss auch, dass ich im Turnen nicht mehr die Jüngste bin. Der Respekt wird immer grösser», sagt die 24-Jährige.
Fünf Mal gewann sie bei Europameisterschaften Gold, holte 2016 mit Bronze als erste Schweizer Turnerin eine Olympia-Medaille und im vergangenen Jahr trotz suboptimaler Vorbereitung WM-Bronze. Doch jetzt geht es für Steingruber um mehr als um Punkte, perfekte Drehungen, Siege und Medaillen. Es geht darum, ihre Bilderbuchkarriere nach den eigenen Bedingungen zu beenden. Denn: «Mit so einem negativen Ereignis will ich nicht aufhören, definitiv nicht. Ich hätte es später enorm bereut, wenn ich es jetzt nicht noch einmal probiert hätte.»
Als Juniorin hatte sie sich in beiden Füssen das Sesambein gebrochen. Doch lange blieb Giulia Steingruber von Rückschlägen verschont. Vom Debüt im Jahr 2010 bis zu den Olympischen Spielen 2016 verpasste sie keine internationalen Titelkämpfe. Danach liess sie sich drei Knochensplitter im rechten Fuss entfernen, ein Aussenband fixieren und einen Knorpelschaden im Sprunggelenk behandeln.
Erst im September 2017 hatte sie erstmals seit den Olympischen Spielen 2016 an einem Wettkampf teilgenommen, dazwischen lag auch ein kurzes Time-out – und der Tod der älteren Schwester im Februar 2017. Steingruber sagt, die vergangenen Monate seien intensiv gewesen. «In der Schule und im Training. Ich war zum Teil ziemlich am Limit. Und manchmal reagiert der Körper darauf.»Dass die Verletzungen auf die körperlichen Belastungen über Jahre hinweg zurückzuführen sind, glaubt sie nicht. «Ich hätte auch die Treppe runterfallen können. Es ist einfach dumm gelaufen», sagt Steingruber.
Es ist das Pech in einer Karriere, die bisher wie im Bilderbuch verlaufen war, deren Ende aber ungewiss ist. Ihr scheint bewusst zu sein, dass die Rückkehr schwieriger werden dürfte als im Vorjahr, als sie WM-Bronze gewonnen hatte. «Aber es bringt nichts, wenn ich mich dauernd frage, wieso das passiert ist.» Was ihr am meisten zu schaffen mache, sei, dass viele nicht verstünden, wie lange es nach einer solchen Verletzung gehe, bis man wieder turnen könne. «Man sieht eben nicht, dass ich verletzt bin. Die Fragen sind manchmal etwas unangenehm.»
Obwohl es schmerze, wenn die Kollegen Wettkämpfe bestreiten, ist sie nahe am Team, bestreitet die Rehabilitation zu einem grossen Teil in Magglingen, trainiert in der Jubiläumshalle. «Es ist mir wichtig, hier zu sein. Das Team und die Trainer sollen wissen, dass ich hier bin. Das tut mir gut», sagt sie. In zwei Wochen steht die nächste Kontrolle beim Chirurgen an. Dann, so hofft Steingruber, kann sie wieder an den Geräten üben. Keine Sprünge, keine Landungen, sondern nur «Kleinigkeiten», wie sie es nennt: Laufen auf dem Balken. Schwingen am Barren. «Ich muss es langsam angehen.» Ungeduldig sei sie, aber sie halte sich an den kleinen Fortschritten fest. «Mein Umfeld ist zufrieden und ich bin auf einem guten Weg.»
Teil dieses Wegs ist auch die Arbeit mit dem Sportpsychologen Heinz Müller in Zofingen. «Für mich war es extrem wichtig, dass ich gleich mit dem Mentaltraining angefangen habe. Dass ich das Gefühl des Wettkampfs nicht vergesse, hilft mir extrem.» Weil sie ein Jahr lang keine Wettkämpfe mehr bestreiten kann, visualisiert sie diese. «Es gibt eine Innen- und eine Aussensicht. Die Aussenansicht ist, wie wenn ich ein Video von mir sehen würde. Die Innensicht ist, wie ich zum Beispiel die Hände auf den Sprungtisch setze und was ich dabei sehe», erklärt sie. Es geht dabei um ein Gefühl, nicht um Rationales.
Für alles andere hat Giulia Steingruber einen Plan: Im Januar will sie wieder an den Geräten trainieren. Im Februar absolviert sie die ersten Maturaprüfungen, im Sommer die letzten. Im Oktober 2019 peilt sie bei den Weltmeisterschaften in Stuttgart die Olympia-Qualifikation an. Doch ein kleiner Zweifel bleibt, ob sie ihr altes Niveau erreicht. «Es sollte schon gehen», sagt sie. «Hoffentlich», und lächelt. Es wäre so etwas wie ein Happy End für die Bilderbuchkarriere der Pechmarie.