Olympische Spiele
So viele Athleten wie noch nie haben sich als homo-oder bisexuell geoutet: «Das werden die diversesten Spiele, die es je gegeben hat»

Die LGBT-Gemeinschaft Japans will unter dem Einfluss der Olympischen Spiele aus ihrem Schattendasein hervortreten.

Felix Lill
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Seiko Hashimoto, Chefin des olympischen Organisationskomitees posiert im Pride House in Tokyo für ein Foto. Sie forderten die Verabschiedung eines LGBTQ-Gleichstellungsgesetzes.

Seiko Hashimoto, Chefin des olympischen Organisationskomitees posiert im Pride House in Tokyo für ein Foto. Sie forderten die Verabschiedung eines LGBTQ-Gleichstellungsgesetzes.

AP Photo/Eugene Hoshiko, Pool

Ende letzten Monat wurde eine Petition mit über 106.000 Unterschriften bei den Regierungs- und Oppositionsparteien eingereicht. Mit ihr wurde gefordert, dass es bis zum Beginn der Spiele am 23. Juli zur Verabschiedung des Gesetzes kommt.

«Das werden die diversesten Spiele jemals», sagt Olivier Fabre und deutet zufrieden in den Raum hinter sich. An den Wänden hängen Regenbogenfähnchen, die Regale sind vollgestellt mit queerer Popkultur und Aufklärungsmangas in verschiedenen Sprachen. Er sagt:

«Von allen Athleten, die bei den Spielen in Tokio dabei sind, haben sich ungefähr 120 als homo- oder bisexuell geoutet. So viele gab es noch nie.»

Der gebürtige Franzose, der in Japan aufwuchs und hier die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, hofft nun auf ein buntes Abfärben. In Shinjuku, einem Stadtteil im Westen Tokios, hat er angefangen. Im ersten Stock über einem Café liegt das ­«Pride House», ein Informations- und Eventzentrum. «Wir beraten Leute, die ein Coming-out planen, oder Eltern und Freunde. Wir wollen die Gesellschaft für diese Themen öffnen.»

Als offizieller Partner der Spiele muss das Pride House weniger mit dem Schmuddel- oder Hippieimage kämpfen, das der LGBT-Szene in Japan anhängt. Schliesslich ist ein Motto von Olympia: «Unity in diversity», Einheit in Vielfalt. Das bezieht sich auf Hautfarben, aber auch auf die Buntheit, die die Regenbogenflagge andeutet. In Japan werden beide Arten von Farbenfreude bisher nicht sonderlich unterstützt. Ein immer wieder zitierter Spruch lautet: «Deru kugi wa utareru» – Der Nagel, der heraussticht, wird wieder reingehämmert. Gleichheit und Konformität ist Trumpf.

Im ersten Stock über einem Café liegt das ­«Pride House», ein Informations- und Eventzentrum.

Im ersten Stock über einem Café liegt das ­«Pride House», ein Informations- und Eventzentrum.

AP Photo/Eugene Hoshiko, Pool

Von den G7-Staaten ist Japan das einzige Land, das gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht anerkennt. Vor Beginn der Spiele haben mehrere NGOs die Regierung dazu gedrängt, ein neues Gesetz zu verabschieden, welches die Anerkennung von Homo- und Transsexualität stärken soll. So würde sich Japan als progressiver Gastgeber präsentieren, argumentiert man im Pride House. Zudem befand im März ein Gerichtsurteil im nördlichen Sapporo, dass Gesetzestexte, die gleichgeschlechtliche Partnerschaften verbieten, gegen die Verfassung verstossen. Theoretisch ist Japans Politik also verpflichtet, ein Gesetz für Homo-Ehen einzuführen. Aber die Politik konnte sich bisher nicht dazu durchringen.

Können die Olympischen Spiele etwas an diesem rauen Klima ändern? Die Prognosen fallen unterschiedlich aus. Vor allem aus der älteren Generation im Land fallen selbst Amtsträger immer wieder dadurch auf, dass sie von Diversität wenig verstehen. Im Februar sorgte der 84-jährige Yoshiro Mori, bis dahin Vorsitzender des olympischen Organisationskomitees, für einen Skandal. Er hatte gesagt, Frauen in Meetings reden zu viel und halten die Diskussionen auf. Kurz darauf fiel mit dem 67-jährigen Hiroshi Sasaki der Kreativdirektor von «Tokyo 2020» negativ auf. Für die Eröffnungsfeier hatte er die Idee, die gewichtige Schauspielerin und Modeikone Naomi Watanabe als Schwein verkleidet im Stadion zu zeigen, als «Olympig». Und dieser Tage diskutiert man in Japan über den 52-jährigen Komponisten Keido Oyamada, dessen Musik die olympische Eröffnungs- und Abschlussfeier in Tokio prägt. Er hat in der Vergangenheit damit geprahlt, Personen mit Behinderungen gehänselt zu haben.

Ein frischer, bunter Wind soll durchs Land blasen

Aber dann lässt sich auch ein anderes Bild zeichnen. Laut einer Umfrage des US-amerikanischen Pew Research Center sind 68 Prozent der Menschen in Japan der Meinung, Homosexualität sollte gesellschaftlich anerkannt sein. Vor allem unter den jüngeren Menschen besteht eine höhere Unterstützung für Gesetze, die Diskriminierung allgemein und die Homo-Ehe speziell verbieten würden. Auch deshalb hoffen Nichtregierungsorganisationen im Land, dass eine im Zuge von Olympia breitere Sichtbarkeit LGBT-orientierter Athletinnen einen frischen Wind durchs Land bläst.

Nur befindet sich in der mit 582 Athleten historisch grossen Olympiaauswahl Japans keine einzige Person, die offen homo- oder bisexuell lebt. Zwar muss man sich in Japan kaum um seine körperliche Unversehrtheit sorgen, wohl aber um seinen sozialen Status. Auf männlichen Sportlern, so Fabre, laste weiterhin viel Druck, besonders traditionell männlich zu sein. Und obwohl weibliche Athletinnen als für Frauen untypisch kräftig gelten, bleibt auch für sie die Angst vor Ausgrenzung durch ein Coming-out oft gross.

Einen ersten Schritt machte die Fussballerin Shiho Shimoyamada vor zwei Jahren. Als sie beim deutschen Zweitligaklub SV Meppen unter Vertrag stand und dort mehr Offenheit gegenüber sexueller Vielfalt begegnete als daheim, erklärte sie sich als lesbisch. Mittlerweile lebt sie wieder in Japan, ist mit dem Thema im Fernsehen aufgetreten und hofft, dass andere Sportler ihr folgen. Sie wünsche sich eine Gesellschaft, die «Unterschiede willkommen heisst.» Im Oktober 2020 outete sich Rugbyspielerin Airi Murakami als lesbisch. Ende Juni kam die Fussballerin Kumi Yokoyama als Transmann raus. Allerdings gehören weder die Pionierin Shimoyamada noch Yokoyama und Murakami zur Olympiaauswahl. Dass sich unter den Athleten, die nun für ihr Land auf Medaillenjagd gehen, bisher niemand geoutet hat, sieht man im Pride House in Tokio als vertane Chance. Aber zu spät sei es nie.

Bis dahin hoffen diejenigen in Japan, die sich mehr Wertschätzung für Diversität wünschen, insbesondere auf Medaillensiege von ausländischen Sportlerinnen mit LGBT-Orientierung. Denn von japanischen weiss man ja nichts.