Analyse
Nach Wimbledon-Drama: Novak Djokovic ist der Beste, Federer bleibt der Grösste

Er ist nahbar und charmant, aufrichtig und humorvoll. Bescheiden und doch selbstbewusst. Weltbürger und doch durch und durch Schweizer. Roger Federer spielt nicht nur Tennis – er ist zum Inbegriff dessen geworden. Daran ändert auch die dritte Final-Niederlage in Wimbledon gegen Novak Djokovic nichts. Die Analyse aus Wimbledon.

Simon Häring
Simon Häring
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Vielleicht die bitterste Niederlage von Roger Federer: Er verliert den Wimbledon-Final in fünf Sätzen gegen Novak Djokovic.

Vielleicht die bitterste Niederlage von Roger Federer: Er verliert den Wimbledon-Final in fünf Sätzen gegen Novak Djokovic.

Keystone

Alles sei gut. Er könne noch immer stehen. «Es wird zwar Zeit brauchen, das zu verdauen, aber ich habe den Beweis erbracht, dass es auch mit 37 noch nicht vorbei ist», sagt Roger Federer um 19.15 Uhr Londoner Zeit. Soeben hat er zum dritten Mal in seiner Karriere nach 2014 und 2015 einen Wimbledon-Final gegen Novak Djokovic verloren. Doch noch nie war es so dramatisch wie in diesem Jahr.

Federer verliert ein Spiel, das er nie hätte verlieren dürfen. Im Tiebreak des ersten Satzes verspielt er einen 5:3-Vorsprung. Im dritten Durchgang lässt er einen Satzball ungenutzt und verliert auch diesen im Tiebreak.

Die Bilder vom Final:

Deutlich mehr Punkte für Federer

Doch nichts ist mit dem Drama zu vergleichen, das sich im fünften Satz abspielt. Federer macht ein 2:4 wett, nimmt Djokovic den Aufschlag zum 8:7 ab und hat bei eigenem Service zwei Matchbälle, die er nicht nutzen kann. Wie auch die zwei Breakchancen beim Stand von 11:11. Im 256. und letzten Einzel des Turniers kommt es zu einer Wimbledon-Premiere: Tiebreak im fünften Satz beim Stand von 12:12. Federer verliert auch dieses. Nach 4:55 geht er mit 6:7 (5:7), 6:1, 6:7 (4:7), 6:4, 12:13 (3:7) als Verlierer vom Platz. Und das, obwohl er am Ende mit 218 zu 204 deutlich mehr Punkte gewonnen hat als Djokovic, der zum fünften Mal nach 2011, 2014, 2015 und 2018 in Wimbledon triumphiert. Für Djokovic ist es bereits der 16. Grand-Slam-Titel. Nur Roger Federer (20) und Rafael Nadal (18) haben noch mehr gewonnen als er.

Djokovic entfacht damit auch die Diskussion neu, wer dereinst als bester Spieler der Tennis-Geschichte in die Annalen eingehen wird:

Roger gibt mir den Glauben, dass ich mit 37 auch noch zu solchen Leistungen fähig sein werde.

Und er unterstreicht damit auch seine Ambitionen. Schon nach seinem Final-Einzug hatte er gesagt: «Ich habe in meiner Karriere schon genug erreicht, um aufzuhören. Doch ich tue es aus zwei Gründen nicht: Erstens macht es mir Spass, und zweitens möchte ich Geschichte schreiben. Ich möchte so viele Grand-Slam-Titel holen wie möglich, und ich möchte auch den Rekord für die meisten Wochen an der Spitze der Weltrangliste.» Bei der Frage, wer der Beste ist, besteht für ihn offenbar noch Klärungsbedarf.

Die Zahlen sprechen für Novak Djokovic und Rafael Nadal – und gegen Roger Federer

Die Zahlen besagen indes, dass Djokovic bereits jetzt der Beste ist – wenn nicht der Geschichte, so zumindest in dieser Dekade und aus dem Trio Federer, Nadal Djokovic. Seit 2011 dominiert er das Männer-Tennis. Er hat 15 der letzten 35 Major-Titel gewonnen, Nadal 9, Federer nur 4. Am Montag schliesst er die 260. Woche als Nummer 1 ab.

Seit er am 4. Juli 2011 nach dem ersten Sieg in Wimbledon zum ersten Mal an die Spitze vorstiess, führte nur noch während 160 Wochen ein anderer das Ranking an. Zudem hat Djokovic sowohl gegen Federer (26:22) als auch gegen Nadal (28:26) eine positive Bilanz. Federer hat auch gegen Nadal die Mehrzahl der Duelle verloren (16:24). Auch bei den Grand-Slam-Turnieren ist die Bilanz desaströs: Gegen Djokovic liegt er mit 6 zu 10 Siegen zurück, gegen Nadal ebenfalls noch mit 4 zu 10. Gleichwohl gilt Roger Federer in der öffentlichen Wahrnehmung als grösster Spieler der Geschichte. Das hat viel mit seinem Wesen zu tun.

Federer spielt nicht nur Tennis, er ist zu dessen Inbegriff geworden

Neben dem Platz umgeben weder Novak Djokovic noch Rafael Nadal die Aura eines Roger Federer. Er ist nahbar und charmant, aufrichtig und humorvoll. Er ist bodenständig und doch weltmännisch. Bescheiden und doch selbstbewusst. Weltbürger und doch durch und durch Schweizer. Nie hat er Bekanntheit mit Bedeutung verwechselt. Und er verkörpert damit Werte, die eine verblüffende Kongruenz mit jenen aufweist, die auch dem Tennis zugrunde liegen: Demut, Respekt, Bescheidenheit und Hingabe. Niemand hat die Werte in diesem Weltsport in den letzten zwei Dekaden mehr geprägt als der bald 38-jährige Baselbieter. Für ihn ist Tennis mehr Lebensstil als Sport. Roger Federer spielt nicht nur Tennis - er ist zum Inbegriff dessen geworden.

Längst wird Federer nicht mehr nur in einem Atemzug mit den Grössten der Sportgeschichte genannt. Inzwischen geht seine Strahlkraft weit über diesen Tennis-Wanderzirkus hinaus. In Wimbledon erzählte er die Geschichte, wie er mit dem königlichen Nachwuchs Grossbritanniens Tennis gespielt habe. Vor dem Turnier war er in London Gast bei einer Promi-Hochzeit. Regelmässig sitzt Vogue-Chefin Anna Wintour in seiner Box. Er besucht die Oscar-Verleihung. Geht zu Modenschauen und Filmpremieren. Roger Federer steht weit über allen. Tennis-Experte Mats Wilander sagt:

Roger ist viel wichtiger, als viele glauben. Wenn er einmal aufhört, wird das ein trauriger Tag sein für unseren Sport.

Der Sonntag ist ein trauriger Tag für Federer. Zum dritten Mal nach 2010 und 2011 in den Halbfinals der US Open verliert er gegen Novak Djokovic ein Spiel, in dem er zwei Matchbälle hatte. Doch er zeigt auch in der Niederlage Klasse.

Meine Kinder werden nicht happy sein, wie ich gespielt habe. Aber wir hatten eine tolle Zeit und ich liebe sie sehr. Nun bin ich wieder ganz Vater und Ehemann.

Als Federer gefragt wurde, als was man ihn in Erinnerung behalten solle, wenn er dereinst von der Tennis-Bühne abtritt, sagte er. «Als einer, der gut war fürs Tennis. Als Philantrop. Und vielleicht als guter Tennis-Spieler.» Alles davon trifft bereits jetzt zu. Daran ändert auch die dritte Final-Niederlage in Wimbledon gegen Novak Djokovic nichts.

Als Trost: Das sind alle 102 Turniersiege von Roger Federer

103. Titel, Basel 2019 Alex De Minaur 6:2, 6:2
103 Bilder
102. Titel, Halle 2019 David Goffin 7:6, 6:1
101. Titel, Miami 2019 John Isner, 6:1, 6:4
100. Titel, Dubai 2019 Stefanos Tsitsipas. 6:4, 6:4
99. Titel, Basel 2018 Marius Copil, 7:6, 6:4
98. Titel, Stuttgart 2018 Milos Raonic, 6:4, 7:6
97. Titel, Rotterdam 2018 Grigor Dimitrov, 6:2, 6:2
96. Titel, Australian Open 2018 Marin Čilić, 6:2, 6:7, 6:3, 3:6, 6:1
95. Titel, Basel 2018 Juan Martín del Potro, 6:7, 6:4, 6:3
94. Titel, Shanghai 2017 Rafael Nadal, 6:4, 6:3.
93. Titel, Wimbledon 2017 Marin Cilic, 6:3, 6:1, 6:4
92. Titel, Halle 2017 Alexander Zverev, 6:1, 6:3
91. Titel, Miami 2017 Rafael Nadal, 6:3, 6:4
90. Titel, Indian Wells 2017 Stan Wawrinka, 6:4, 7:5.
89. Titel, Australian Open 2017 Rafael Nadal, 6:4, 3:6, 6:1, 3:6, 6:3.
88. Titel, Basel 2015 Rafael Nadal, 6:3, 5:7, 6:3.
87. Titel, Cincinnati 2015 Novak Djokovic, 7:6 (7:1), 6:3.
86. Titel, Halle 2015 Andreas Seppi, 7:6 (7:1), 6:4
85. Titel, Istanbul 2015 Pablo Cuevas, 6:3, 7:6 (13:11)
84. Titel, Dubai 2015 Novak Djokovic, 6:3, 7:5.
83. Titel, Brisbane 2015 Milos Raonic, 6:4, 7:6, 6:4. - Es war Federers 1000. ATP-Karriere-Sieg.
82. Titel, Basel 2014 David Goffin, 6:2, 6:2.
81. Titel, Schanghai 2014 Gilles Simon, 7:6 (8:6), 7:6 (7:2)
80. Titel, Cincinnati 2014 David Ferrer, 6:3, 1:6, 6:2.
79. Titel, Halle 2014 Alejandro Falla, 7:6, 7:6
78. Titel, Dubai 2014 Tomas Berdych, 3:6, 6:4, 6:3.
77. Titel, Halle 2013 Michail Juschni, 6:7 (5:7), 6:3, 6:4.
76. Titel, Cincinnati 2012 Novak Djokovic, 6:0, 7:6 (9:7)
75. Titel, Wimbledon 2012 Andy Murray 4:6, 7:5, 6:3, 6:4
74. Titel, Madrid 2012 Tomas Berdych 3:6, 7:5, 7:5.
73. Titel, Indian Wells 2012 John Isner, 7:6, 6:3.
72. Titel, Dubai 2012 Andy Murray, 7:5 6:4.
71. Titel, Rotterdam 2012 Juan Martin Del Potro, 6:1, 6:4.
Federer feiert 2011 an den ATP World Tour Finals in London den 70. Titel im 100. Final Jo-Wilfried Tsonga, 6:3, 6:7, 6:3
69. Titel in Paris-Bercy Jo-Wilfried Tsonga, 6:1, 7:6
68. Titel in Basel 2011 Kei Nishikori, 6:1, 6:3
67. Titel in Doha 2011 Nikolay Davydenko, 6:3, 6:4
66. Titel an den World Tour Finals in London 2010 Rafael Nadal, 6:3, 3:6, 6:1
65. Titel in Basel 2010 Novak Djokovic, 6:4, 3:6, 6:1
64. Titel in Stockholm 2010 Florian Mayer, 6:4, 6:3
63. Titel in Cincinnati 2010 Mardy Fish, 6:7, 7:6, 6:4
62. Titel: Federer gewinnt die Australian Open 2010 Andy Murray, 6:3, 6:4, 7:6
61. Titel in Cincinnati 2009 Novak Djokovic, 6:1, 7:5
60. Titel: Wimbledon 2010 Andy Roddick, 5:7, 7:6, 7:6, 3:6, 16:14
59. Titel: Ein emotionaler Titel! Federer gewinnt 2009 endlich die French Open in Paris Robin Söderling, 6:1, 7:6, 6:4
58. Final in Madrid 2009 Rafael Nadal, 6:4, 6:4
57. Final in Basel 2008 David Nalbandian, 6:3, 6:4
56. Titel: Federer gewinnt die US Open 2008 Andy Murray, 6:2, 7:5, 6:2
55. Titel in Halle 2008 Halle. Philipp Kohlschreiber, 6:3, 6:4
54. Titel in Estoril 2008 Nikolay Davydenk0, 7:6, 1:2 (w.o.)
53. Titel in Schanghai 2007 David Ferrer, 6:2, 6:3, 6:2
52. Titel in Basel 2007 Jarkko Nieminen, 6:3, 6:4
51. Titel: US Open-Sieg 2007 Novak Djokovic, 7:6, 7:6, 6:4
50. Titel in Cincinnati 2007 James Blake, 6:1, 6:4
49. Titel: Skpektakulärer Wimbledon-Triumph 2007 Rafael Nadal, 7:6, 4:6, 7:6, 2:6, 6:2
48. Titel in Hamburg 2007 Rafael Nadal, 2:6, 6:2, 6:0
47. Titel in Dubai 2007 Mikhail Juschni, 6:4, 6:3
46. Titel: Federers Sieg an den Australian Open 2007 Fernando Gonzalez, 7:6, 6:4, 6:4
45. Titel in Schanghai 2006 James Blake, 6:0, 6:3, 6:4
44. Titel in Basel 2006 Fernando Gonzalez, 6:3, 6:2, 7:6.
43. Titel in Madrid 2006 Fernando Gonzalez, 7:5, 6:1, 6:0
42. Titel in Tokio 2006 Tim Henman, 6:3, 6:3
41. Titel: Federer gewinnt 2006 auch die US Open Andy Roddick, 6:2, 4:6, 7:5, 6:1
40. Titel in Toronto 2006 Richard Gasquet, 2:6, 6:3, 6:2
39. Titel, Federer gewinnt 2006 Wimbledon Rafael Nadal, 6:0, 7:6, 6:7, 6:3
38. Titel in Hamburg 2006 Tomas Berdych, 6:0, 6:7, 6:2
37. Titel in Miami 2006 Ivan Ljubicic, 7:6, 7:6, 7:6
36. Titel in Indian Wells 2006 James Blake, 7:5, 6:3, 6:0
35. Titel: Ein emotionaler Titel: Federer gewinnt 2006 die Australian Open Marcos Baghdatis, 5:7, 7:5, 6:0, 6:2
34. Titel in Doha 2006 Gaël Monfils, 6:3, 7:5
33. Titel in Bangkok 2005 Andy Murray, 6:3, 7:5
32. Titel: Federer gewinnt 2005 die US Open Andre Agassi, 6:3, 2:6, 7:6, 6:1
31. Titel in Cincinnati 2005 Andy Roddick, 6:3, 7:5
Federer gewinnt Wimbledon 2005, sein 30. Titel Andy Roddick, 6:2, 7:6, 6:4
29. Titel in Halle 2005 Marat Safin, 6:4, 6:7, 6:4
28. Titel in Hamburg 2005 Richard Gasquet, 6:3, 7:5, 7:6
27. Titel in Miami 2005 Rafael Nadal, 2:6, 6:7, 7:6, 6:3, 6:1
26. Titel in Indian Wells 2005 Lleyton Hewitt, 6:2, 6:4, 6:4
25. Titel in Dubai 2005 Ivan Ljubicic, 6:1, 6:7, 6:3
24. Titel in Rotterdam 2005 Ivan Ljubicic, 5:7, 7:5, 7:6
23. Titel in Doha 2005 Ivan Ljubicic, 6:3, 6:1
22. Titel in Houston 2004 Lleyton Hewitt, 6:3, 6:2
21. Titel in Bangkok 2004 Andy Roddick, 6:4, 6:0
Federer gewinnt zum ersten Mal die US Open, sein insgesamt 20. Titel Lleyton Hewitt, 6:0, 7:6, 6:0
19. Titel in Toronto 2004 Andy Roddick, 7:5, 6:3
18. Titel in Gstaad 2004 Igor Andrejev, 6:2, 6:3, 5:7, 6:3
Der zweite Wimbledon-Titel 2004: Sein insgesamt 17. Titel Andy Roddick, 4:6, 7:5, 7:6, 6:4
16. Titel in Halle 2004 Mardy Fish, 6:0, 6:3
15. Titel in Hamburg 2004 Guillermo Coria, 4:6, 6:4, 6:2, 6:3
14. Titel in Indian Wells 2004 Tim Henman, 6:3, 6:3
13. Titel in Dubai 2004 Feliciano Lopez, 4:6, 6:1, 6:2
Der erste Autralian Open-Sieg: Jahr 2004, sein 12. Titel Marat Safin, 7:6, 6:4, 6:2
11. Titel in Houston 2003 Andre Agassi, 6:3, 6:0, 6:4
10. Titel in Wien 2003 Carlos Moya, 6:3, 6:3, 6:3
Federers erster Grand Slam-Sieg: Wimbledon 2003 Mark Philippoussis, 7:6, 6:2, 7:6
8. Titel in Halle 2003 Nicolas Kiefer, 6:1, 6:3
7. Titel in München 2003 Jarkko Nieminen, 6:1, 6:4
6. Titel in Dubai 2003 Jiri Novak, 6:1, 7:6
5. Titel in Marseille 2003 Jonas Bjorkman, 6:2, 7:6
4. Titel in Wien 2002 Jiri Novak, 6:4, 6:1, 3:6, 6:4
3. Titel in Hamburg 2002 Marat Safin, 6:1, 6:3, 6:4
2. Titel in Sydney 2002 Juan Ignacio Chela, 6:3, 6:3
Roger Federers erster Titel auf der ATP-Tour, Mailand 2001 Julien Boutter, 6:4, 6:7, 6:4

103. Titel, Basel 2019 Alex De Minaur 6:2, 6:2

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