Motorrad
Tom Lüthi tritt zurück – der letzte Saurier geht und eine Ära ist zu Ende

Der Schweizer Motorradfahrer Tom Lüthi, 34, tritt per Ende Saison zurück. Nicht nur eine der grössten Karrieren unseres Motorsportes ist Geschichte. Auch die Töffwelt ist inzwischen eine ganz andere als zu Beginn seiner Laufbahn am Anfang dieses Jahrhunderts.

Klaus Zaugg
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Tom Lüthi im Videointerview über seinen Rücktritt.

Keystone-SDA

Tom Lüthi hört nicht auf, weil er zu langsam geworden ist. Er beendet seine Karriere zum richtigen Zeitpunkt, weil die Welt eine andere geworden ist. Weil die anderen immer schneller werden.

Der Zeitpunkt ist gut gewählt. Der Emmentaler hätte durchaus noch zwei, drei Jahre mitfahren und hin und wieder eine «Top Ten»-Klassierung herausfahren können. Aber es macht für einen ehemaligen Weltmeister und 17-fachen GP-Sieger keinen Sinn, ohne Aussicht auf Siege und Spitzenklassierungen und bei geringerem finanziellem Ertrag in einer der anspruchsvollsten und gefährlichsten Sportarten Kopf und Kragen zu riskieren.

Frischgebackener Weltmeister Tom Lüthi in Siegerpose nach der Überquerung der Ziellinie am Grand Prix Le Mans 2005.

Frischgebackener Weltmeister Tom Lüthi in Siegerpose nach der Überquerung der Ziellinie am Grand Prix Le Mans 2005.

Keystone

Anders als Beispielsweise Roger Federer (dessen sportliche Situation durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit jener von Tom Lüthi hat) setzen die «Asphaltcowboys» bei jeden Einsatz Leben, Gesundheit und Existenz aufs Spiel. Der Entscheid, ob es sich lohnt, weiterzumachen oder nicht, hat im Motorradrennsport eine ganz andere Dimension als in «gewöhnlichen» Sportarten. Es geht auch – und das ist nicht dramatisiert – um Tod und Leben.

Die Parallele zu Roger Federer ist durchaus gewollt: 2005 wird Tom Lüthi als Weltmeister der damals kleinsten Klasse (125 ccm) Sportler des Jahres. Vor Roger Federer. Wahrscheinlich der überraschendste Ausgang dieser Sportlerehrung.

Sportgrössen an der Sport-Gala: OL-Läuferin Simone Niggli Luder und Lüthi als Sportlerin und Sportler des Jahres 2005 und Lüthi im Gespräch mit Federer.

Natürlich ist Roger Federers Bedeutung im Weltsport im Quadrat hoch drei grösser als die von Tom Lüthi. Aber aus helvetischer Sicht prägen beide als Titanen eine Ära. So wie Stan Wawrinka nie aus dem Schatten von Roger Federer treten konnte, so ist es Dominique Aegerter nie gelungen, zu werden wie Tom Lüthi. Wie Roger Federer weltweit ist auch Tom Lüthi zumindest auf nationaler Ebene in seinem Sport das Mass aller Dinge

Tom Lüthi bleibt einmalig für die Schweiz

Wann sehen wir den nächsten Tom Lüthi? Wahrscheinlich nicht einmal in 100 Jahren. Das mag nun eine gar provokante Aussage sein. Wir neigen dazu, die Bedeutung einer Athletin oder eines Athleten als Zeitgenossen zu überschätzen. Ein paar Jahre später erinnern wir uns nur noch vage an die sportlichen Heldentaten. Weil längst ein neuer Titan seinen Platz eingenommen hat.

Aber im Fall von Tom Lüthi ist es anders. Er bleibt auch wegen der äusseren Umstände einmalig. Die Töffwelt ist inzwischen eine ganz andere als zu Beginn seiner Laufbahn am Anfang dieses Jahrhunderts. Es genügt längst nicht mehr, Tod und Teufel nicht zu fürchten und eine Höllenmaschine am Rande der Todeszone zu steuern, ohne mit den Wimpern zu zucken.

Immer mehr waghalsige Duelle: Der Töff-Zirkus im Jahr 2021.

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Eine Karriere ist nur noch möglich, wenn einer auch in den Büros der Werbegeneräle und bei öffentlichen Auftritten ein Meister seines Faches ist. Um es salopp zu sagen: um eine Tennis-Karriere oder eine Fussball-Laufbahn zu starten, genügen sportliche Schuhe, kurze Hosen und ein Racket oder ein Ball. Wer ein internationaler Töffstar werden will, braucht inzwischen ein Anschubkapital von mindestens einer Million und kluge, international vernetzte Berater. Alle Faktoren müssen stimmen: Talent, persönliches Umfeld, wirtschaftliche Situation. Es kann in einem Land wie der Schweiz Jahre dauern, bis ein Fahrer wieder alle Voraussetzungen mitbringt, um ganz nach oben zu kommen. Tom Lüthi ist der letzte «Saurier», der in einer Zeit seine Karriere begonnen hat, als es noch mit weniger Geld ging.

Es gibt so viele Weltklasse-Athleten wie noch nie

Noch entscheidender: die Welt ist eine andere geworden. Dorna, der spanische Besitzer aller GP-Rechte, bildet die Nachwuchsfahrer über eigene Rennserien selbst aus. Inzwischen haben wir so viele so gute und so junge Weltklassepiloten wie noch nie in der GP-Geschichte (seit 1949). Und als logische Folge: noch nie waren Rennen auf allen Stufen bis hinauf in der «Königsklasse» so intensiv, so ausgeglichen, ja gnadenlos und auf so hohem Niveau.

Ein Weltmeister hört auf: Tom Lüthi.

Ein Weltmeister hört auf: Tom Lüthi.

Diese Revolution frisst die «Wunderkinder»: es ist künftig nicht mehr möglich, auf höchstem Niveau über einen so langen Zeitraum zu dominieren oder zumindest einen Platz in den vorderen Rängen zu behaupten wie in den letzten 20 Jahren. Die Konkurrenz ist einfach zu stark geworden.

Das ist der neue Job von Tom Lüthi

Tom Lüthi ist ein Opfer dieser Entwicklung in einer Sportart, die sich stürmischer verändert als jede andere. Er fährt nicht langsamer als vor drei Jahren. Aber die anderen viel schneller und rücksichtsloser. Er hat im Zeitraum von 20 Jahren mehr als 300 GP bestritten (nur Valentino Rossi ist von noch aktiven Fahrern öfter am Start gestanden) und ist immer noch dazu in der Lage, in die «Top Ten» zu fahren. Er ist auch so gesehen der letzte «Saurier» aus einer Zeit, die es nicht mehr geben wird.

Unter den neuen Verhältnissen ist eine so lange Karriere auf so hohem Niveau nicht mehr möglich. Mit Tom Lüthis Rücktritt ist eine Ära zu Ende gegangen. Tom Lüthi kümmert sich ab nächster Saison im Auftrag eines deutschen Teams um die Förderung junger Piloten. Auch wenn er perfekte Arbeit leistet (und das wird er) – den nächsten Tom Lüthi kann auch er in der neuen, rauen Welt nicht mehr formen.