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Mit Martina Hingis (37) beendet die beste Schweizer Tennisspielerin der Geschichte ihre Karriere. Sie geht als Weltstar, und mit sich selbst im Reinen.
Es ist gleichwohl Schicksal wie Privileg, ein Pionier zu sein. Privileg, weil Pionieren vorbehalten ist, Neuland zu beschreiten und Geschichte zu schreiben. Schicksal, weil sie jene sind, die als Erste mit dem Gesicht im Matsch landen und als Erste Pfeile im Rücken haben.
Auf kaum jemanden trifft das mehr zu als auf Martina Hingis, den ersten Schweizer Weltstar im Sport. Gestern gibt sie in Singapur, wo sie derzeit im Doppel die WTA-Finals bestreitet, ihren Rücktritt bekannt. «Ja, es stimmt, aber erst nach dem letzten Spiel, was hoffentlich am Sonntag sein wird», bestätigt sie, was seit Monaten als Gerücht kursiert war.
Wenn der letzte Vorhang fällt, geht auch eines der aufregendsten Kapitel der Schweizer Sportgeschichte zu Ende. Hingis ist 13 Jahre alt, als sie mit Zahnspange und Sondergenehmigung in Zürich ihr Debüt bei den Grossen gibt.
Ein Jahr später gewinnt sie ihr erstes Spiel bei einem Grand-Slam-Turnier. Mit 15 bezwingt sie die damals Weltbeste, Steffi Graf. Als sie 16 ist, führt sie als Jüngste der Geschichte die Weltrangliste an. Mit 17 ziert sie das Cover des US-Magazins «GQ», dann jenes der «Vogue».
Sie ist Gast bei Talkmaster David Letterman. Immer ist sie die Jüngste, die Erste, die Beste. Martina Hingis, erst Wunderkind, bald Weltstar.
Sie ist die bekannteste Schweizerin der Welt. Doch im Gegensatz zur Weltöffentlichkeit entscheidet sich die Schweiz, ihr die Liebe zu verweigern. 1997, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, fragt das Nachrichtenmagazin «Facts» nach den populärsten Schweizer Sportlern.
Es gewinnt die Marathonläuferin Franziska Rochat-Moser, Zweiter wird Ski-Fahrer Michael von Grüningen. Hingis landet abgeschlagen auf Platz 13. Das hat viel mit ihrem Auftreten zu tun.
Man kann es rüpelhaft nennen, aufbrausend, gnadenlos ehrlich – oder authentisch. Wer ungeschönt sagt, was er denkt, eckt an. Vor allem in der Schweiz, im Land der Bescheidenheit.
Einer blutjungen Martina Hingis ist das lange Zeit egal. Sie bezeichnet Gegnerinnen als Salatköpfe, sagt über die Williams-Schwestern, sie hätten wegen ihrer dunklen Hautfarbe Vorteile bei Werbepartnern. «Ein halber Mann», spottet sie einmal über Amélie Mauresmo. Doppel-Partnerinnen tauscht sie aus, wenn diese «zu alt und langsam» werden.
Hingis redet, wie sie spielt: aus dem Bauch heraus. Das sorgt für Gegenwind. Immer öfter ist sie in Saddlebrook, Florida. Sie weigert sich zuweilen, Deutsch zu sprechen. Sie entfremdet sich von der Schweiz, ihrer Heimat.
Doch was ist Heimat für jemanden, der zwei Drittel seines Lebens in einer Blase verbracht hat, wie sie der Tennis-Zirkus ist? Mal hier, mal dort – aber eben meistens: fort. Vielleicht liegen die Wurzeln für die schwierige Liaison auch in ihrer Biografie.
Martina Hingis kommt im September 1980 als Martina Hingisova in Kosice, in der Tschechoslowakei, zur Welt. Mit zwei Jahren hält sie erstmals einen Tennisschläger in der Hand. Mit vier spielt sie Turniere. Als sie Sieben ist, heiratet Mutter Melanie den Schweizer Andreas Zogg.
25 Grand-Slam-Titel hat Martina Hingis in ihrer Karriere gesammelt,
209 Wochen die Weltrangliste angeführt,
43 Turniere im Einzel und
57 im Doppel gewonnen –
unvergleichlich.
Mutter und Tochter lassen den Eisernen Vorhang hinter sich und ziehen nach Trübbach ins St. Galler Rheintal. Die Ehe wird geschieden. Hingis wächst ohne Vater auf.
Unter den Fittichen einer Mutter, die ihre Meinung ähnlich ungefiltert äussert. «Früher hat man Scheisse über mich geschrieben. Ich hätte Martina ihre Kindheit geraubt und ich wolle ihr Geld», sagte sie 1997 der Zeitschrift «Tele». Mit 14 Jahren beendet Hingis die Schule. «Wenn man genug Geld hat, kann man alles nachholen», sagt die Mutter.
Äusserungen, die in der Schweiz, dem Land der Vorsichtigen, für Missmut sorgen. Aber Melanie Molitor behält recht. Hingis führt 209 Wochen die Weltrangliste an. Sie gewinnt 43 Turniere im Einzel, 57 im Doppel. Sie gewinnt 25 Grand-Slam-Turniere – unvergleichlich.
Weniger Glück hat Hingis in der Liebe. Auf der Liste der Verflossenen stehen Namen wie die von Fussballer Sol Campbell, Golfer Sergio Garcia, Eishockeyspieler Pavel Kubina oder jene der Tennisspieler Ivo Heuberger, Julian Alonso, Magnus Norman oder Radek Stepanek, mit dem sie sogar kurze Zeit verlobt ist.
Mit Springreiter Thibault Hutin ist sie sogar drei Jahre verheiratet. Die Liaison endet hässlich. Hingis soll ihn geschlagen haben, klagt Hutin im Boulevard und reicht Strafanzeige ein. Glück und Halt findet Hingis immer wieder im Tennis.
«Hier werde ich respektiert. Hier habe ich meinen Platz, einen gewissen Rang und meinen Namen», sagt sie in diesem Sommer im Gespräch mit der «Nordwestschweiz».
Erstmals tritt sie 2003 wegen Fussproblemen zurück. Drei Jahre später kehrt sie zurück und klettert auf den sechsten Platz der Weltrangliste. Am 1. November 2007 erklärt sie im Renaissance-Hotel in Glattbrugg, sie sei positiv auf Kokain getestet worden.
Sie bestreitet die Einnahme bis heute, wird aber für zwei Jahre gesperrt. Sie versucht sich als Reiterin, bestreitet Schaukämpfe. Vom Tennis, Paradies wie Gefängnis, kommt sie aber nie los.
Also kehrt sie 2013 im Doppel zurück: reifer, charismatischer, entspannter. «Ich habe meine zwei Lektionen gelernt im Leben – einmal im Doping, einmal im Privatleben», sagt sie 2015 im «Tages-Anzeiger».
Wer Hingis heute spielen sieht, muss zum Schluss kommen, für sie stehe die Zeit still. Noch immer behandelt sie den Ball wie einen Schatz. Sie war nie die Schnellste, nie die Grösste, nie die Kräftigste. Aber ihr Ballgefühl ist unerreicht. Butterweich schwingt sie den Schläger, mit verstörender Präzision finden die Bälle ihr Ziel.
Und immerzu lächelt Hingis dabei. Vielleicht sind es nur ihre Gesichtszüge, die wie ein Lächeln erscheinen. Aber Hingis versteht es damit, ihre Begleiter für sich einzunehmen. Ihr Markenzeichen hat ihr einen ebenso schmeichelnden wie widersprüchlichen Beinamen eingebracht: «Smiling Assassin», lächelnde Mörderin.
Im letzten Sommer schliesst sich für die lange Unverstandene ein Kreis. Mit Timea Bacsinszky, die sich als Kind ständig an Hingis messen musste und einst sagte, sie sei der Ursprung ihres Verderbens und schuld am Horror ihrer Kindheit gewesen, gewinnt Hingis bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro Doppel-Silber.
Heute sagt sie, wenn sie eines nie gewesen sei, dann sei es das: langweilig. Darauf angesprochen, ob sie sich daran störe, dass Roger Federer die Bewunderung zuteilwird, die sie zuweilen für sich einfordert, sagte sie einmal: «Diejenigen, die vorausgehen, ebnen den Weg. Die Ehre erhalten dann die, die nachkommen.»
Pionierin Hingis tritt von der Weltbühne ab. Vielleicht noch immer unverstanden – aber mit sich im Reinen.