Leukämie! Eine dicke Umarmung für Flavio

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François: Dieses Mal kommt das «Gschobe» anders daher. Dieses Mal ist die Kolumne ein Monolog.

Immer wieder werde ich von Menschen gefragt: «Sag mal, gibt es diese Gruppe tatsächlich? Sind die Typen, die darin vorkommen, tatsächlich real oder denkst du dir das alles nur aus? Und trefft ihr euch auch wirklich? Jede Woche?»

Ja, die Menschen sind real. Sie heissen zwar im realen Leben anders als in der Kolumne. Aber ihre Wohnorte und Berufe, die hier angegeben werden, stimmen mit der Realität überein. Und ja, wir treffen uns regelmässig, wie wir das schon seit 30 Jahren tun. Früher in unserem Dorf. Seit mehr als 20 Jahren in Winterthur, weil das ungefähr in der Mitte unseres Territoriums liegt.

Vor 30 Jahren lebten wir alle im gleichen Dorf im Appenzellerland. Wir fanden das Leben dort furchtbar langweilig, wir fanden die Gesellschaft furchtbar spiessig. Wir träumten vom grossen Wurf und hatten wohl doch nicht den Mut und die Entschlossenheit, diesem Traum alles unterzuordnen. Das hat uns verbunden.

Und die Verbindung ist geblieben. Bis heute. Auch wenn keiner mehr in diesem Dorf wohnt. Es werden Göttipflichten untereinander verteilt. Die Frauen sind teilweise untereinander befreundet. Wir sind irgendwie so etwas wie eine grosse Familie.

Es ist ungewohnt, dass wir uns jetzt nicht mehr treffen können. Tobias beispielsweise ist schon längere Zeit nicht mehr erschienen, weil eine Mitarbeiterin jener Kita, die seine Tochter besucht, positiv auf Corona getestet wurde. Wir anderen haben nun beschlossen, vorerst mit unseren Treffen auszusetzen.

Trotzdem hatte ich es anders geplant. Flavio, der einzige Junggeselle unserer Gruppe, hatte mich für Mittwoch zum Pizzaessen bei sich zu Hause eingeladen. Den Dialog, zumindest Teile davon, wollte ich in diese Kolumne verpacken. Dann, am Nachmittag, Flavios Anruf, der die Coronakrise zur Nebensächlichkeit degradiert. «Ich muss absagen für heute Abend. Bei mir wurde eben akute Leukämie diagnostiziert. Kannst du mich morgen ins Unispital fahren?» Natürlich kann ich.

Flavio – ihn kenne ich am längsten. Wir sind quasi Tür an Tür aufgewachsen. Seine Mutter nannte mich noch «Fränzeli», als ich längst schon Bartwuchs hatte. Für meine Mutter war Flavio der hübsche Italienerbub mit den dunklen Locken und den grossen dunklen Augen – obwohl nur der Vater Italiener ist.

Wir sitzen im Auto. Auf der Fahrt ins Unispital. Wir reden belangloses Zeug. Es kommt uns wohl beiden entgegen, dass wir nicht ins Existenzielle abdriften. Kurz, bevor wir das Unispital erreichen, lege ich Iggy Pop ein. «Candy», ein Duett mit Kate Pierson. Denn ich habe die komische Angewohnheit, Lieder mit Menschen oder umgekehrt zu assoziieren. «Candy», das ist der Flavio-Song, seit er in den 90ern in unserer WG zu diesem Song durch die Wohnung tanzte. Ich habe ihm das nie gesagt. Bis eben, kurz bevor ich ihn beim Notfall abliefere.

«Candy» – anders darf ich dich derzeit nicht umarmen, mein lieber Flavio.