Weltrekord
Wann durchbricht Eliud Kipchoge die Marathon-Schallmauer?

Eliud Kipchoge pulverisierte in Berlin den Marathon-Weltrekord. Warum es wohl nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch die berüchtigte Schallmauer von zwei Stunden durchbrochen wird.

Simon Häring
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Lächelnd in den Marathon-Olymp: Eliud Kipchoge bei seinem Weltrekord in Berlin.

Lächelnd in den Marathon-Olymp: Eliud Kipchoge bei seinem Weltrekord in Berlin.

KEYSTONE

Das Unvorstellbare, das Undenkbare und Unerreichte übt seit Menschengedenken eine sonderbare Faszination auf uns aus. Entdecken, erobern, greifbar machen – das ist es, was unser Wesen ausmacht: Wir wollen Dinge tun, die niemand vor uns getan hat.

Eliud Kipchoge hat am Sonntag etwas getan, was bis vor wenigen Jahren noch unmöglich schien: Er lief den Berlin-Marathon in 2:01:39 Stunden und damit um 1:18 Minuten schneller als der bisherige Rekordhalter. Der Kenianer hat damit auch die Diskussion neu entfacht, ob ein Mensch die 42,195 Kilometer unter zwei Stunden laufen kann.

Warum immer in Berlin die Rekorde purzeln

2003 legte der internationale Leichtathletikverband fest, welche Faktoren gegeben sein müssen, damit ein Marathon-Weltrekord anerkannt wird: Die Entfernung zwischen Start und Ziel darf auf einer theoretischen, direkten Verbindungslinie gemessen nicht mehr als 50 Prozent der Streckendistanz betragen.

Zudem soll zwischen Start und Ziel die Höhe nicht mehr als 0,1% (1 Meter pro km) der Streckendistanz abnehmen. Beim Marathon wären dies 42 Meter. Nirgendwo
trifft dies mehr zu als in Berlin.

Obwohl Olympia-Sieger, Millionär und Laufikone, lebt Kipchoge unter der Woche mit Kollegen in Kaptagat im Rift Valley in Kenia unter einfachsten Bedingungen. Er schält Gemüse und schrubbt Toiletten. Abends liest er Bücher: Konfuzius, Aristoteles, auch Paulo Coelho.

Über seinem Bett hängt ein Spruch: «Um erfolgreich zu sein, musst du nur eine Regel befolgen: Belüge dich selbst niemals.» Wenn er spricht, hat das etwas Andächtiges. Die Stimme ist ruhig, aber in seinen Augen spiegelt sich Überzeugung. Eliud Kipchoge ist 33-jährig, aber die Gruben auf den Wangen lassen ihn älter wirken, als er ist. Sie verleihen ihm einen Hauch Weisheit.

«Es geht um Herz und Kopf»

Vielleicht sind es aber auch die Sätze, die er sagt, die erahnen lassen, was ihn zum besten Ausdauerläufer gemacht hat. «Der Marathon ist Leben. Es geht nicht um die Beine. Es geht um das Herz und den Kopf. Und in meinem Herzen fühle ich, dass ich über menschliche Grenzen gehen kann.» 42,195 Kilometer, 120 Minuten. Das sind die Grenzen in seiner Welt.

25 Sekunden fehlten Kipchoge beim unter Laborbedingungen ausgetragenen Projekt seines Sponsors Nike auf der Rennstrecke von Monza. «Die Welt ist nur noch 25 Sekunden entfernt. Viele Menschen denken, dass einer stirbt, der so schnell rennt. Aber ich lebe immer noch», sagt Kipchoge und lächelt.

Wie auf der Zielgeraden des Marathons in Berlin. Schmerzen sagte er einmal, seien nichts anderes als eine Denkweise. Wenn der Schmerz ihn einhole, lächle er. Er sagt, es mache ihn frei. Doch es macht ihn auch: schnell. Beim Lachen schüttet der Körper Glückshormone aus. Und diese dämpfen das Schmerzempfinden.

Es ist im Kopf, wo Wissenschafter das grösste Potenzial zur Optimierung der Leistung sehen. «Ich habe alle diese Zahlen: Zum Wind, zu den Schuhen, zum Lactat», sagt Brett Kirby, ein Physiologe, der in Monza mithelfen sollte, die Schallmauer zu durchbrechen. «Aber ich habe ein grosses, leeres Feld: Wie messe ich den Kopf? Wie messe ich die Fähigkeit eines Menschen, Dinge zu tun, von denen wir dachten, sie seien unmöglich?»

Der Marathon in vier Zahlen

2:50...

...Minuten müsste der Schnitt pro Kilometer betragen, um den Marathon in unter zwei Stunden zu laufen, Kipchoge benötigte bei seinem Weltrekord im Schnitt 2:53 Sekunden für 1000 Meter. Den schnellsten Kilometer lief er in 2:43 Minuten und blieb selbst auf dem langsamsten Kilometer unter 3 Minuten.

140...

...der besten je von Männern gelaufenen Marathon-Zeiten gehen auf das Konto von gebürtigen Afrikanern. Mit Tadesse Abraham hält in 2:06:40 ein gebürtiger Eritreer den Schweizer Rekord. Die beste von einem Nicht-Afrikaner erzielte Zeit lief Sondre Nordstad Moen (No) mit 2:05:48.

2:00:25...

...beträgt die schnellste je gelaufene Zeit über die Marathon-Distanz. Eliud Kipchoge gelang dies im vergangenen Jahr auf der Rennstrecke von Monza im Rahmen des Projekts «Breaking 2» von Sponsor Nike. Ein Weltrekord ist das aber nicht, weil die sechs Tempomacher nach jeder Runde ausgetauscht wurden, was nicht im Einklang mit den IAAF-Regeln ist.

2:58:50...

...Stunden benötigte der griechische Wasserträger Spyridon Louis beim ersten Olympia-Marathon 1896 für die damals noch 40 Kilometer lange Strecke. Louis trat danach nie mehr zu einem Rennen an, wurde aber zum Nationalhelden. Vor drei Jahren widmete ihm Griechenland eine Zwei-Euro-Gedenkmünze.

Kipchoge habe ihm erst gezeigt, wie wichtig der Kopf sei. Er erinnert sich an einen Dialog zwischen dem umstrittenen Sportwissenschafter Tim Noakes und Ex-Läufer Alex Hutchinson, der sich seit über einem Jahrzehnt mit der Frage beschäftigt, welche Rolle der Kopf bei Höchstleistungen spielt. Noakes fragt dabei: «Hast du bemerkt, dass er nicht tot ist? Das bedeutet, er hätte noch schneller laufen können.»

Schmerzempfinden verändern

Seine Erkenntnisse hat Hutchinson im Buch: «Endure: Mind, Body and the Curiously Elastic Limits of Human Performance» verschriftlicht. Er vertritt darin die These, dass wir nicht einmal in die Nähe unserer Leistungsgrenze kommen.

Weil das Hirn Belastungen antizipiert und bei Schmerzen Warnsignale aussendet. Er berichtet darin auch von Trainern, die versuchen, mit Stromstössen ans Gehirn das Schmerzempfinden zu verändern. Gelingt das dereinst, würde das den Ausdauersport fundamental verändern.

Eliud Kipchoge läuft 200 Kilometer in der Woche. Er ist kein Senkrechstarter. Er sagt: «Nur die Disziplinierten sind im Leben frei. Undisziplinierte sind Sklaven von Stimmungen und Leidenschaft.» Er lebt damit das vor, was Hutchinson sagt: Ein Läufer müsse mit grossem Volumen sein Gehirn konditionieren.

Der Schweizer Ex-Marathon-Läufer Viktor Röthlin sagt: «Vom Körper her könnte ich das Tempo noch zehn Minuten mitlaufen. Ob ich es vom Kopf her könnte, ist hingegen fraglich.» Eliud Kipchoges Erfolg sei eben auch Resultat von Disziplin und Beharrlichkeit.

Doch was ihn von anderen abhebt, ist vielleicht das: ein unerschütterlicher Glaube an sich selbst. Kein Mensch, sagt Kipchoge, sei limitiert. Es seien die Menschen selber, die sich Grenzen setzten. Und dann zitiert er Aristoteles: «Wenn du Freude hast an dem, was du tust, steht dir der Weg zur höchsten Vollendung offen.» In seinem Fall wäre das die magische Zahlenfolge: 1:59:59 Stunden.

Der perfekte Tag, das perfekte Rennen: Wie die Zwei-Stunden-Schallmauer fällt:

Die Strecke: Flach, gerade und mit leichtem Gefälle

Es ist die Topografie, welche den Berlin-Marathon zum schnellsten der Welt macht. Der Kurs ist flach wie eine Scheibe. Dazu kommt die Höhenlage. Berlin liegt auf 34 Metern über dem Meeresspiegel. Das ist entscheidend: Je höher man sich befindet, desto weniger Sauerstoff kann der Körper beim Atmen aufnehmen.

Doch auch der Berliner Stadtkurs ist nicht perfekt. Jeder Richtungswechsel kostet Zeit. Je gerader eine Strecke ist, desto besser. Und: Strassen werden aus Beton und für den Verkehr gebaut. Auf einer Tartanbahn wäre die Zwei-Stunden-Marke wohl schon längst unterboten worden.

Die Verpflegung: Nicht mehr, aber dosiert und individuell

Wer zwei Stunden rennt, muss dem Körper Energie in Form von kohlehydrathaltigen Getränken zuführen. Versuche haben gezeigt, dass sich die Läufer nicht mehr, dafür regelmässiger verpflegen sollten. In Berlin gab es offiziell acht Getränkeposten, Kipchoge aber liess sich an 13 Orten eine Flasche reichen.

Das Problem: Bei der Verpflegung geht Zeit verloren. Und: Je stärker die Belastung, desto weniger gut ist der Darm durchblutet. Das verlangsamt die Verdauung. Der Körper kann Energie dann schlechter verarbeiten. Was, wie oft und in welcher Dosierung ein Athlet zu sich nimmt, ist also sehr individuell.

Die Taktik: Alle für einen, statt alle gegen alle

Sein Weltrekord ist einer mit Ansage. Doch die Taktik ist im Prinzip krachend gescheitert: Drei Tempomacher sollten Kipchoge vor Attacken abschirmen und ein regelmässiges Tempo laufen. Usus ist, dass einer von ihnen bis Kilometer 35 mitläuft. Doch die letzten 17 Kilometer absolvierte Kipchoge allein.

Er lief diesen Abschnitt regelmässiger und sogar schneller. Der Schweizer Ex-Marathon-Läufer Viktor Röthlin sagt: Würde man die besten Läufer unserer Zeit in einem Rennen starten lassen, könnte der Rekord fallen. Doch dann laufen die Athleten gegeneinander – und nicht gegen die Uhr.

Das Wetter: Kalt, windstill, bewölkt und trocken

Studien belegen, dass die weltbesten Marathon-Läufer ihre Bestleistung bei 3,8 Grad und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit erreichen. Bei Kipchoges Rekordlauf am vergangenen Sonntag wurden in Berlin bis zu 23 Grad gemessen, bei einer Luftfeuchtigkeit von bis zu 80 Prozent. Zudem schien die Sonne. Das erhöht die Körpertemperatur.

Und je höher diese ist, desto grösser ist der Flüssigkeits- und der Energieverlust.
Es ist einer der limitierenden Faktoren im Ausdauersport. Regen verunmöglicht die Rekordjagd. Spritzwasser kühlt die Beinmuskulatur aus, die Laufökonomie leidet unter der Feuchtigkeit.

Der Athlet: Klein, leicht und aus Westafrika

Afrikaner haben im Verhältnis zum Oberkörper wesentlich längere und schlankere Beine. Geringes Gewicht wirkt sich positiv aus. Zudem ist die Achillessehne bei Westafrikanern stabiler, was die Laufökonomie verbessert. Afrikaner haben zudem ein Enzym, das den Fettstoffwechsel begünstigt.

Sie benötigen beim Laufen weniger Sauerstoff und produzieren weniger Milchsäure. Kleine Athleten sind im Vorteil, weil die Hautfläche im Verhältnis zum Körpervolumen grösser ist. Sie können die produzierte Hitze besser abgeben. Beides führt dazu, dass sie weniger schnell ermüden. (sih)