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Giulia Steingruber, Benjamin Gischard und Christian Baumann bescheren der Schweiz an den Kunstturn-Europameisterschaften drei Medaillen. Das täuscht darüber hinweg, dass sich das goldene Jahrzehnt im Schweizer Kunstturnen dem Ende zuneigt. Eine Analyse.
Die Kunstturn-Europameisterschaften in Basel standen unter speziellen Vorzeichen. Keine Zuschauer, kaum Stimmung, dazu war es für viele der erste grosse Wettkampf nach fast anderthalb Jahren Pause. Auch für Giulia Steingruber, die in den letzten Jahren oft verletzt gewesen war, und Pablo Brägger, der nach den Olympischen Spielen in Tokio zurücktreten wird. Die beiden prägten das erfolgreichste Jahrzehnt im Schweizer Kunstturnen seit dem goldenen Zeitalter zwischen 1924 und 1952 um Georges Miez, Jack Günthardt, Eugen Mack und Josef Stalder, die mit ihren Medaillen bis heute zu den erfolgreichsten Schweizer Olympioniken gehören.
Acht Jahre nach ihrem ersten EM-Titel im Sprung holte Steingruber in Basel an ihrem Paradegerät in überlegener Manier zum vierten Mal Gold. Es war ihre zehnte Medaille bei Europameisterschaften. 2016 hatte sie in Rio de Janeiro mit Bronze im Sprung als erste Schweizer Turnerin eine Olympia-Medaille gewonnen. Im Sommer wird Steingruber zum dritten Mal nach London und Rio de Janeiro an Olympischen Spielen teilnehmen. Dass eine Turnerin über einen dermassen langen Zeitraum zur Weltspitze gehört, ist aussergewöhnlich. Steingruber sagt dazu: «Turnen ist so etwas Schönes, ich stecke so viel Leidenschaft in diesen Sport.»
Ihre Goldmedaille im Sprung ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich Steingruber vor zehn Tagen im Training einen Muskelfaserriss im linken Oberschenkel zugezogen hatte. Die Qualifikation absolvierte sie mit einer Bandage, auf den Mehrkampffinal verzichtete sie, wie auch auf den Final am Boden vom Sonntag. Den Goldsprung habe sie letztmals eine Woche vor dem Wettkampf trainiert - im Turnen ist das eine halbe Ewigkeit. «Ich habe mich voll und ganz auf meinen Körper verlassen und darauf vertraut, dass er die Bewegungen kennt», sagte Steingruber. Auch das macht sie zur Ausnahmeerscheinung im europäischen Kunstturnen der Frauen.
Was Steingruber bei den Frauen, ist Pablo Brägger für das Schweizer Team bei den Männern. Der Ostschweizer erreichte erstmals an einer EM den Mehrkampffinal und sorgte dort mit Rang 5 gleich für ein Glanzresultat. Es ist die beste Klassierung eines Schweizers seit 62 Jahren und Max Benker. Nur einmal gewann ein Schweizer in der Königsdisziplin eine Medaille: Max Benker holte 1957 Bronze. Wäre er im Reckfinal nicht gestürzt, hätte der 28-jährige Brägger wohl zum zweiten Mal nach 2017 die Goldmedaille gewonnen. Für ihn sprangen Christian Baumann (26) mit Bronze am Barren und Benjamin Gischard (25) mit Silber am Boden in die Bresche.
Mit dem 23-jährigen Schwyzer Marco Pfyl gab ein Schweizer Debütant bei internationalen Titelkämpfen seine Visitenkarte ab. Er wurde Sechster am Barren und Achter am Reck, die Gerätefinals verpasste er wegen der Regel, wonach nicht mehr als zwei Turner pro Land teilnahmeberechtigt sind. Mit Steingruber, Baumann, Gischard und auch Brägger funkelten die Juwelen im Schaufenster. Brägger hört nach den Olympischen Spielen auf, ob Steingruber weitermacht, ist offen. Brägger, Steingruber und der Aargauer Oliver Hegi, der im März zurücktrat, prägten das Schweizer Kunstturnen im letzten Jahrzehnt. Das täuscht über die Lücken im Lager hinweg.
Besonders gross sind diese bei den Frauen, wo Steingruber wieder einmal alles überstrahlte. Die 16-jährige Lilli Habisreutinger erreichte im Sprung in der Qualifikation Rang 13 und sorgte damit für das beste Einzelresultat einer Schweizerin. Die 23-jährige Stefanie Siegenthaler, verpasste den angestrebten Final der 24 Besten im Mehrkampf deutlich. Sie klassierte sich als 41. am Barren, im 43. Rang im Mehrkampf, 47. Rang am Balken und 56 am Boden. Die Aargauerin Anina Wildi belegte die Ränge 49 im Mehrkampf, 71 am Balken, 73 am Boden und 75 am Barren. Von einer Qualifikation für die Gerätefinals waren sie allesamt meilenweit entfernt.
Mit drei Medaillen durch Steingruber, Gischard und Baumann erfüllte das Schweizer Team die Erwartungen, konnte aber nicht ganz an die Ausbeute bei den letzten Heim-Europameisterschaften 2016 in Bern anknüpfen, wo es zwei Mal Gold durch Steingruber, dazu Bronze durch Baumann und das Schweizer Männerteam gegeben hatte. Damals war die Schweiz mit einer Ausnahme (Ringe der Männer) auch in allen Gerätefinals mit mindestens einer Athletin oder einem Athleten vertreten. Bei den Frauen erreichte damals Steingruber drei von vier Finals, dazu belegte die nun verletzte Ilaria Kaeslin am Balken Rang 4. Bei den Männern standen Brägger und Baumann in drei Gerätefinals, dazu Benjamin Gischard am Sprung.
Fünf Jahre später sind Steingruber, Brägger, Baumann und Gischard noch immer die prägenden Figuren im Schweizer Team. Die Letztgenannten werden künftig die Last als Teamleader tragen müssen. Denn hinter ihnen, Steingruber, Brägger und dem zurückgetretenen Hegi klafft ein Loch, das der Schweizer Nachwuchs so schnell nicht wird füllen können.