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Nati-Held Josip Drmić und das Nationalteam – warum ist die Geschichte so kompliziert?
Josip Drmić steht in den Katakomben des Genfer Stadions. Er schaut um sich und soll nun erklären, welche Gefühle dieses Siegtor gegen Lettland auslöst. Die Szenerie wirkt fast surreal. Drmić sucht die Superlative. «Explosion! Feuerwerk! Unbeschreiblich!», sagt er. Dass er seine Leidenszeit für einen kurzen Moment einfach so vergessen durfte. «Und genau für solche Momente spiele ich Fussball!» Doch sein Körper hinkt in diesen Momenten noch hinterher, ist von den Eindrücken zu erschlagen, um Gefühlseruptionen zuzulassen.
Drmić und die Schweizer Nationalmannschaft. Es ist eine verrückte Geschichte. Manchmal kompliziert. Vielfach schön. Es ist ein ständiges Auf und Ab, wie auf der wildesten Achterbahn. Dass er an diesem Samstag bereits wieder Held sein darf, hätten nicht viele gedacht. Am wenigsten vielleicht er selbst. «Aber träumen darf man ja ...» Das neuste Kapitel in dieser Geschichte ist ohne jeden Zweifel ein schönes. Das Tor gegen Lettland ist bereits sein zehntes für die Schweiz im 26. Einsatz. Es ist eine hervorragende Quote.
Dass Drmić für die Schweiz spielen darf, ist nicht selbstverständlich. Zweimal verwehrt ihm die Gemeinde Freienbach die Einbürgerung. Darum verpasst er jene U17-Weltmeisterschaft, an der die Schweizer den Titel gewinnen. Einmal erzählt Drmić darüber: «Ich war 16 Jahre alt und kam in eine Situation, die ich so nicht erwartet hatte. Ich kam in diesen Raum und fand mich plötzlich vor etwa zehn erwachsenen Leuten. Der eine flüstert mit dem anderen. Ein nächster lacht. Wieder ein anderer schaut dich extrem ernst an. Jede meiner Körperbewegungen wird registriert und bewertet. Ich wusste nicht mehr, wo ich gerade bin und was ich überhaupt mache. Es war eine sehr unangenehme Situation.»
«Manchmal habe ich grundlos Leute in meinem Umfeld beschimpft. Oder die Krücken an die Wand geschmissen.»
Dazu werden ihm Fragen gestellt, ob er denn später der Fussball-Schweiz auch mal den Rücken kehren werde. Im dritten Anlauf klappt es mit der Einbürgerung. Und auch aus der Nationalmannschafts-Karriere wird doch noch etwas. Zwei Monate vor der WM in Brasilien gelingen ihm seine ersten Tore – ausgerechnet gegen die Heimat seiner Eltern, Kroatien. Drmić ist zu dieser Zeit in bester Verfassung.
In der Bundesliga wird er mit 17 Treffern für Nürnberg beinahe Torschützenkönig. An der WM in Brasilien bildet er mit Shaqiri ein kongeniales Duo. In Erinnerung bleibt aber auch diese eine Szene: Wie er im Achtelfinal gegen Argentinien alleine vor dem Tor einen Lob versucht – und doch kläglich scheitert. Fortan gehört Drmić zum Stamm des Teams. Mal hat er Vorteile. Mal Haris Seferovic, sein Konkurrent im Sturm, der trotzdem ein guter Kumpel ist.
Doch die Geschichte wendet sich wieder. Vor gut einem Jahr beginnt die längste Leidensgeschichte seiner Karriere. Er bleibt mit dem Knie hängen. Knorpelschaden. Der EM-Traum ist ausgeträumt. Und plötzlich kommt die Ungewissheit. Er fragt sich: «Kann ich überhaupt je wieder Fussball spielen?» Und sagt: «Ich wusste genau: Es gibt einige Spieler, die wegen einer ähnlichen Verletzung ihre Karriere beenden mussten.»
Während seine Nati-Kollegen in Frankreich an der EM spielen, sitzt Drmić zu Hause. Am Telefon sagt er: «Ich habe den Rückschlag offen angenommen. Früher hätte ich mir vielleicht den Kopf zerbrochen. Aber es ist besser, die Realität zu akzeptieren und nach vorne zu schauen.»
Es sind Worte, die er auch darum wählt, weil er bereits mit 19 Jahren, noch beim FCZ, eine ähnlich schwere Knieverletzung erlebt. Damals kann er damit noch nicht gut umgehen. «Manchmal habe ich grundlos Leute in meinem Umfeld beschimpft – oder meine Krücken an die Wand geschmettert.» Seine Gedanken drehten sich ständig um den Fussball.
Das war nun, fast fünf Jahre später anders. Über den Sommer hat Drmić in Mönchengladbach einen sorgfältigen Aufbau absolviert. Einmal erzählt er in einem Interview der «Rheinischen Post»: «Es tut schon gut, wenn man nicht vergessen geht.» Und im gleichen Gespräch gab er sich auch sicher: «Ich bin wieder da!» Jetzt ist es so weit. Zumindest im Nationalteam. Das Selbstvertrauen kann er brauchen, um auch im Verein durchzustarten.
24 Jahre alt ist Drmić mittlerweile. Oder besser: erst. Es würde kaum überraschen, wenn noch einige turbulente Kapitel in seiner Karriere folgen würden.