Jelena Ostapenko: «Gewinnst du, lieben sie dich. Verlierst du, kennen sie dich nicht»

Die Lebenslinien von Jelena Ostapenko und Belinda Bencic kreuzten sich schon früh. Beide spielen mutig und unbekümmert. Beide gehören schon als Mädchen zu den Weltbesten. Und beide müssen danach untendurch.

Simon Häring, Melbourne
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Seit letztem Herbst arbeitet Jelena Ostapenko mit Marion Bartoli zusammen.

Seit letztem Herbst arbeitet Jelena Ostapenko mit Marion Bartoli zusammen.

Bild: WTA Lienz

Mit geradem Rücken und wachem Blick, die Haare zu einem strengem Pferdeschwanz gebunden, sitzt Jelena Ostapenko an diesem Abend in Melbourne. Wie immer. Vielleicht ist es auch nur eine Fassade. Vielleicht kann nicht einmal sie das so genau sagen. Jedenfalls deutet nichts auf das menschliche Schicksal hin, das die Lettin Anfang Jahr dazu bewogen hatte, aus Auckland in Richtung Heimat zu reisen, nachdem ihr Vater Jevgenijs, der ehemalige Profi-Fussballer, überraschend verstorben war. Sie spielte mit dem Gedanken, auf die Australian Open zu verzichten. Aber es sei besser, sich zu beschäftigen. «Zuhause würde mir nur die Decke auf den Kopf fallen. Tennis zu spielen, lenkt mich ab», sagt die 22-Jährige. Vom unermesslichen Schmerz, dass nicht mehr da ist, was seit ihrem ersten Tag da gewesen war. «Wie sehr du jemanden vermisst, merkst du erst, wenn er nicht mehr da ist», sagte Ostapenko. Und verband das mit dem dringenden Appell, nichts für selbstverständlich zu nehmen.

Und nun ist sie zurück in der Tennis-Blase, diesem Tross, dessen Fassade zwar so schön glitzert, aber in der einem nichts geschenkt wird. Jelena Ostapenko steht stellvertretend für viele Karrieren im Frauen-Tennis, das ständig nach neuen Helden verlangt. 2017 gewann sie, gerade einmal 20-jährig, als erste Ungesetzte seit 1933 in Roland Garros. Es war zugleich auch ihr erster Turniersieg überhaupt. «Heute wurde ein Star geboren», sagte die siebenfache Roland-Garros-Siegerin, Chris Evert. Und Boris Becker: «Die Götter wollten, dass Ostapenko gewinnt.» Auf eine wie sie hat das Frauen-Tennis lange gewartet: furchtlos, mitreissend und mutig. Jelena Ostpanko kennt keine Kompromisse und bestimmt fast gegen jeden Gegner das Spiel. Ostapenko ist aber auch so unbeständig wie ein Vulkan, der irgendwie immer vor dem Ausbruch zu stehen scheint. Als Drama-Queen hat sie sich einen wenig schmeichelhaften Ruf erworben.

Ostapenko gewinnt die French Open 2017

Roter Teppich und Staatsempfang

«Als ich in Riga am Flughafen ankam, wurde der Rote Teppich für mich ausgerollt», erinnert sich Jelena Ostapenko an diesen Sommer 2017, der ihr Leben veränderte. «Auf dem Platz war ich nie nervös, aber da schon.» Empfangen wird sie vom damaligen Staatspräsidenten Raimonds Vejonis. Mehrere Tausend Letten hatten sich rund um das Freiheitsdenkmal in der Hauptstadt Riga versammelt, um gemeinsam den Final zu verfolgen. Sie spricht, wie sie spielt: rasant. «Niemand hat mich dies gelehrt, es ist einfach die Art, wie ich spiele. Sie entspricht meinem Charakter», sagte sie damals. Ein Mädchen ohne Angst. Bis auf Rang 5 der Weltrangliste kletterte Ostapenko, ehe sie in Paris als Titelverteidigerin bereits in der Startrunde ausschied. So kometenhaft ihr Aufstieg war, fast so tief war auch ihr Fall. Im letzten Jahr verlor Ostapenko 14 Mal bereits in der Startrunde. In der Weltrangliste rutschte sie bis auf Patz 83 ab.

Ostapenko steht stellvertretend für viele Karrieren im Frauen-Tennis, das ständig nach neuen Helden verlangt. «Wenn du gewinnst, lieben sie dich. Wenn du verlierst, kennen sie dich nicht mehr», sagt sie. Sätze wie diese hat auch die gleichaltrige Belinda Bencic schon formuliert. Schon früh haben sich ihre Lebenslinien gekreuzt. Erstmals spielen sie 2011 in Prag gegeneinander; Bencic gewinnt. Im Jahr darauf in Kanada revanchiert sich Ostapenko. 2013 gewinnt Bencic das Junioren-Turnier in Wimbledon. Ihre Nachfolgerin ist Jelena Ostapenko. Kurz vor ihrem 20. Geburtstag gehört Bencic erstmals zu den Top Ten der Weltrangliste. Kurz nach ihrem 20. Geburtstag gewinnt Ostapenko in Roland Garros. Beide spielen mutig und unbekümmert. Beide gehören schon als Mädchen zu den Weltbesten. Und beide müssen danach untendurch. Bencic, weil sie ihren Körper in die Erschöpfung treibt, Ostapenko, weil ihrem Spiel die Balance fehlte.

Mit Marion Bartoli zurück an die Spitze

2011 in Prag spielten Belinda Bencic und Jelena Ostapenko erstmals gegeneinander. Ihre Lebenslinien kreuzten sich danach immer wieder.

2011 in Prag spielten Belinda Bencic und Jelena Ostapenko erstmals gegeneinander. Ihre Lebenslinien kreuzten sich danach immer wieder.

Bild: Twitter/BenoitMaylin

Erst im letzten Herbst und mit der Hilfe der Französin Marion Bartoli, der Wimbledon-Siegerin von 2013 als Trainerin, fand sie den Tritt wieder. Zehn ihrer letzten elf Spiele gewann Ostapenko, die inzwischen wieder im 45. Rang der Weltrangliste geführt wird. Auf das neue Jahr bereitete sie sich während fünf Wochen in ihrer Heimat Riga vor, vier Wochen davon mit Bartoli, über die Ostapenko sagt, sie sei eine Freundin. Als Belinda Bencic am 20. Oktober 2019 das Turnier in Moskau gewann und sich damit für den Final der acht Jahresbesten qualifizierte, gewann Ostapenko am gleichen Tag in Luxemburg ihren dritten Titel. Aus den mutigen Mädchen sind mutige Frauen geworden. Nun treffen sie in der zweiten Runde der Australian Open wieder aufeinander. «Sie war wie ich eine gute Juniorin, aber wir kennen uns nicht näher», sagt Bencic. Auch das ist irgendwie bezeichnend für diesen globalen Sport, in dem vieles nur Fassade bleibt. Man kennt sich ein halbes Leben lang, aber man bleibt sich fremd.

Jelena Ostapenko trauert um ihren Vater Jevgenijs.

Jelena Ostapenko trauert um ihren Vater Jevgenijs.

Bild: Instagram