Sport
Ins Hitzelabor für Olympia: Zu Besuch beim Extrem-Training der Schweizer Sportler

Ein Augenschein im speziell entwickelten Hitzelabor im Velodrome, wo sich der Schweizer Sport fit für die klimatischen Extrembedingungen von Tokio macht. Dort werden im kommenden Sommer die heissesten Olympischen Sommerspiele der Geschichte erwartet.

Rainer Sommerhalder
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Bahnfahrer Théry Schir beim Belastungstest im Hitzelabor Grenchen, begleitet von Sportwissenschafter Lucas Schmid.

Bahnfahrer Théry Schir beim Belastungstest im Hitzelabor Grenchen, begleitet von Sportwissenschafter Lucas Schmid.

Rainer Sommerhalder

Als Brillenträger ist man chancenlos. Die Luftfeuchtigkeit von mehr als 80 Prozent beschlägt die Gläser innerhalb von Sekundenbruchteilen. Auch die Kamera versagt ihren Dienst. Praxisnaher Anschauungsunterricht, wieso in diesem unscheinbaren Nebenraum im Velodrome Grenchen auch Material wie Gesässpolster in Velohosen oder Handschuhe für Golfer auf ihre Hitzetauglichkeit getestet werden.

Seit 2015 erforscht das Ressort Leistungssport der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen (EHSM) gemeinsam mit Swiss Olympic und den Sportverbänden die Auswirkungen des klimatischen Ausnahmezustands, wie man ihn im kommenden Sommer an den Olympischen Spielen in Tokio erwartet. Die Wetterdaten sagen die extremsten Bedingungen voraus, die je bei Olympia geherrscht haben. «Gut möglich, dass man sich phasenweise in einem Bereich bewegt, bei dem dringend vor dem Ausüben von sportlichen Tätigkeiten abgeraten wird», sagt Sportwissenschafter Lucas Schmid mit Verweis auf die farblich abgestimmte Klimatabelle.

Gefühlte 45 Grad in Tokio

Problematisch sind nicht in erster Linie die Temperaturen, die im vergangenen Sommer in der japanischen Metropole immer wieder an der 40-Grad-Marke kratzten. Entscheidend ist die Kombination mit der horrenden Luftfeuchtigkeit von über 80 Prozent. Dabei fühlen sich 32 Grad an wie 45 Grad. Das hat Einfluss auf die Effizienz des Schwitzens. «Der Schweiss verdampft nicht richtig und kann seine Kühlfunktion für den Körper nur ungenügend wahr nehmen», erklärt Schmid. Damit erhöht sich der Energieaufwand für die Körperkühlung. Energie, die beim Leistungsvermögen abgeht. Der Körper überhitzt.

Diese Feststellung machen an diesem Tag die Schweizer Bahnradfahrer. Sie unterziehen sich vor und nach einem Trainingslager in Südeuropa einem 20-minütigen Belastungstest im Hitzelabor. Es wird untersucht, wie weit sich der Körper an die Hitze anpasst. Dies soll Antworten liefern, ob die finale Vorbereitung auf Tokio auch in Europa stattfinden kann. Bereits ist klar, dass einige Schweizer Olympioniken unmittelbar vor den Sommerspielen im Hitzelabor in Grenchen trainieren werden. Die Athleten sollen abschätzen können, wie es für sie am besten stimmt. Rund 14 Tage braucht ein Athlet normalerweise, bis er sich an die aussergewöhnlichen Verhältnisse in der grössten Stadt der Welt akklimatisiert hat.

Einfache Dinge verändern sich

Auf diese grundlegende Feststellung folgen viele individuelle Eigenheiten und weitere Detailfragen, welche die Sportwissenschafter gemeinsam mit Verbänden und Athleten ergründen. Welche Art von Training ist vor Ort sinnvoll? Was ist das ideale Trinkverhalten? Wie kühlt man den Körper vor dem Wettkampf? Oder eben: Wie reagiert das Material auf die Verhältnisse? EHSM-Mitarbeiter Severin Trösch, welcher die Arbeit im Hitzelabor leitet, sagt: «Es sind unzählige Details, auf welche die klimatischen Bedingungen einen Einfluss haben. Die einfachsten Dinge verändern sich.»

Swiss Cycling gehört zu den sehr aktiven Verbänden. Mountainbike-Olympiasieger Nino Schurter war schon im Hitzelabor wie auch die Bahn- und Strassenfahrer. Sportwissenschafter Schmid arbeitet im Auftrag des Verbandes und amtet zusätzlich noch als Ausbildungsverantwortlicher.

Sechs Deziliter Schweiss in 20 Minuten

Bahnspezialist Théry Schir verliert an diesem Tag in den 20 Minuten auf dem Velo-Ergometer rund sechs Deziliter Schweiss. Neben den messbaren Parametern muss Schir alle fünf Minuten gemäss der sogenannten Borg-Skala Bericht über sein subjektives Empfinden abgeben. Wie heiss fühlt es sich an? Wie ist das Gefühl bei der sportlichen Belastung? «Das Erleben der Bedingungen bleibt wohl der wichtigste Faktor im Hitzelabor», sagt Lucas Schmid. Die Athleten sollen einen bleibenden Eindruck erhalten, was sie in Tokio erwartet. Und sie können den Umgang mit der Hitze lernen. Auch den Trainern und Leistungssport-Verantwortlichen der olympischen Sportverbände wollte man dies vermitteln. Swiss Olympic lud sie kurzerhand zu einer Sitzung im Hitzelabor ein – bei eingeschalteter Hitze- und Feuchtigkeitszufuhr.

Auch das Interview findet innerhalb des Hitzelabors, wo man mit einfachen Mitteln einen grossen Effekt erzielen kann, statt. Und für den Journalisten bleibt nach einer knappen Stunde die Erkenntnis, das eine oder andere Shirt zusätzlich den Koffer für Tokio einzupacken.

Leichtathletik-WM animiert zu ETH-Masterarbeit

Auch für die Leichtathletik-Weltmeisterschaft, die nächsten Freitag im Golfstaat Katar beginnt, spielte das Hitzelabor von Grenchen eine Rolle. In der Hauptstadt Doha herrschen derzeit Temperaturen von nahezu 40 Grad. Sportwissenschafter Lucas Schmid hat im Rahmen seines Studiums an der ETH Zürich die Masterarbeit dem Thema, wie man seinen Körper bei solchen Bedingungen vor dem Wettkampf abkühlt, gewidmet.

Bei sportlicher Belastung erwärmt sich die Kerntemperatur des Körpers relativ schnell. Sie beträgt in der Regel rund 37 Grad. Ab 40 Grad Kerntemperatur aktiviert der Körper einen Schutzmechanismus gegen die Überhitzung. Er fährt seine Systeme kontinuierlich herunter. Sportliche Höchstleistungen gehören dann nicht mehr zu den vorgesehenen Tätigkeiten. Entsprechend drosselt er die Energiezulieferung.

Um diesen Moment hinauszuzögern, kann man die Körpertemperatur vor dem Start reduzieren. Damit verbleibt quasi ein grösseres Depot, bis man entscheidend überhitzt. Das sogenannte „Pre-Cooling“ ist allerdings ebenfalls eine Gratwanderung. Zum einen gibt es auch gegen unten eine kritische Grenze, die bei rund 35 Grad liegt, aber sehr individuell sein kann. Andererseits sollten bei Läufern gewisse Muskelgruppen bereits beim Startschuss „auf Betriebstemperatur“ sein.

Bei Schmids Forschungen ging es um die Reihenfolge, die Kombination, den zeitlichen Ablauf, die Wirksamkeit und die Verträglichkeit von einzelnen Massnahmen. Kältebäder, Kühlwesten, Eisdrinks und Menthol-Anwendungen gehören dazu. Einige Hilfsmittel werden auch durch die Reglemente des internationalen Leichtathletik-Verbandes eingeschränkt. So sind etwa Kältebäder auf dem Wettkampfgelände nicht erlaubt.

Um die Auswirkungen auf den Körper zu untersuchen, hat Schmid auf Hightech-Pillen zurückgegriffen, welche von den Testpersonen vorgängig geschluckt wurden. Diese sind mit einem Mikrochip ausgerüstet und messen während mehreren Stunden innerhalb des Körpers die herrschende Temperatur, was im Bereich des Darms am zuverlässigsten geschieht.

Weil das Stadion in Doha mit einer neuen Technik gekühlt wird, betrifft die Hitzeproblematik in erster Linie die Marathonläufer – im Fall der Schweiz Tadesse Abraham. Der Schweizer Mittel- und Langstreckentrainer Louis Heyer hat sich im Vorfeld der WM mit den Forschungen im Hitzelabor Grenchen auseinandergesetzt.

Doch nicht nur die klimatischen Bedingungen haben einen Einfluss auf Abrahams Leistungsvermögen. Eine ebenso entscheidende Frage ist die Vorbereitung auf den Wettkampf. Aufgrund der Hitze wird der Marathon um Mitternacht gestartet. Sportwissenschafter Severin Trösch sagt, dass man in der Regel den täglichen Zenit des Leistungsvermögens zur Uhrzeit erreicht, in welcher man das Training absolviert. „Wir empfehlen deshalb, dass der Athlet mehrere Wochen lang sein intensives Training zur Wettkampfzeit durchführt.“ Trösch prognostiziert unabhängig davon: „Der Marathon wird so oder so eine Hitzeschlacht“.