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Vier Wochen nach seinem 60. Geburtstag starb die Fussball-Legende Diego Armando Maradona an den folgenden eines Herzinfarkts. Eine Würdigung.
Oscar Ruggeri moderierte gestern zur Mittagszeit seine beliebte Fussballsendung auf ESPN, als er plötzlich zu weinen begann. Er habe soeben die Nachricht erhalten, dass sein ehemaliger Mitspieler Diego Armando Maradona tot sei, schluchzte Ruggeri. Die beiden waren 1986 Weltmeister geworden.
Maradona starb an den Folgen eines Herzinfarkts, erlitten in seinem Haus in Tigre, nördlich der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Dort erholte er sich von einer Hirnoperation: Sein Leibarzt Leopoldo Luque entfernte ihm anfangs dieses Monats ein Hämatom.
Mehrmals vermochte Maradona in der Vergangenheit dem Tod von der Schippe zu springen. Oft war er im Spital.
Gestern jedoch hörte sein Herz für immer auf zu schlagen. Bei seinem Lebenswandel kam es einem Wunder gleich, dass er am 30. Oktober noch seinen 60. Geburtstag feiern konnte.
Maradona war zuletzt Trainer des argentinischen Erstdivisionärs Gimnasia y Esgrima La Plata. In der Nähe des Trainingsgeländes bewohnte er ein Haus, verliess dieses aus Angst vor dem Coronavirus aber nur noch selten. Nach zwei Herzinfarkten und als ehemaliger Kokainabhängiger war er besonders anfällig auf Covid-19. Mit den Medien sprach «Dieguito» seit Monaten nicht mehr. Es war wohl besser so, der langjährige Alkohol- und Drogenmissbrauch hatten körperlich und geistig deutliche Spuren bei ihm hinterlassen: Maradonas letzte Radio- und Fernsehinterviews gerieten zur Farce, stotterte er doch fast nur wirres Zeugs in die Mikrophone.
Maradona war ein Fussballer und Mensch zwischen Genie und Wahnsinn. 2001 habe ich ihn selbst kennengelernt und erlebt. Ich war damals bei der FIFA Publikationsverantwortlicher und Medienchef der U20-Weltmeisterschaft in Argentinien. Das Exklusivinterview, das mir Maradona in einem Hotelzimmer in Buenos Aires mit dreistündiger Verspätung gewährte, vergesse ich nie. Endlich eingetroffen, schritt der «Goldjunge», wie sie ihn in seiner Heimat nannten, zum Schreibtisch, riss ein paar leere Seiten aus einem Notizblock und formte diese zu einem Papierknäuel. Daraufhin jonglierte er das unförmige Objekt mit den Füssen: links, rechts, links, rechts, links, rechts, immer und immer wieder. Der Knäuel fiel nie zu Boden. Ich traute meinen Augen nicht.
Fortan redeten Maradona und ich über Gott und die Welt. Er war offen, selbstkritisch, humorvoll, interessant. Er sprach auch über seine Kokainsucht, er zeigte Reue, bat Familie und Fans um Verzeihung. Maradona sah krank aus, wirkte aufgedunsen und schwitzte unentwegt, obwohl es im Raum kühl war. Während des eineinhalbstündigen Interviews gönnte er sich bestimmt vier Glas Whiskey-Cola, mit starker Betonung auf den alkoholischen Teil des Getränks.
Gegen Ende des Interviews fragte mich Maradona: «Spielst du Fussball?» Ich bejahte. «Kannst du einen Ball auftreiben?» Ja, kann ich. «Dann hole ihn! Lass uns hier unten kicken.» Neben dem Hotel befanden sich mehrere Kleinfelder. Der Arzt und der Manager von Maradona, die dem Interview bislang teilnahmslos beigewohnt hatten, schossen aus ihren Sesseln. Sie merkten, dass es Maradona ernst war. Er wollte tatsächlich mit mir «tschüttele». Diego und ich. Der Doktor flehte Maradona an: «Diego, denke an dein Herz, bitte!» Sichtlich verärgert liess Maradona schliesslich davon ab – und ich war enttäuscht.
Wenig später beendeten wir das Gespräch. Ich bat Maradona noch um ein Autogramm für meinen Sohn. Auf der Liftfahrt Richtung Hotelempfang fragte er, was ich denn nun mit seiner Unterschrift anstellen würde. Ich antwortete, im Wissen um seine Abneigung gegenüber Pelé: «Ich hänge sie im Zimmer meines Sohnes unterhalb des Autogramms des grössten Fussballers aller Zeiten hin, jenes von Pelé.» Maradona schaute mich verwundert an, blickte dann zu seinem Manager und sagte zu diesem: «Ich schwöre dir, ich bringe diesen Schweizer um!» Schallendes Gelächter im Aufzug.
Wochen später, das Interview war inzwischen erschienen, klingelte mein Handy. Am anderen Ende Maradonas unverkennbare Stimme. Ihm hätte das Interview sehr gefallen und er hätte viele positive Reaktionen darauf erhalten: «Als Dank dafür lade ich dich zu meinem Abschiedsspiel ein.» Die Partie fand wenig später in Buenos Aires statt – ohne mich. Maradona hatte zuvor Sepp Blatter und die FIFA wieder einmal medial verunglimpft, was den Präsidenten dermassen erzürnte, dass er seine Reise nach Argentinien absagte – und meine ebenso. Ich verdrückte eine Träne.
Adiós, Diego!
«Ob vor 10 oder vor 100’000 Zuschauern, das war mir egal», sagte mir Maradona damals im Interview. «Ich wollte einfach nur Fussball spielen. Nirgends war ich so glücklich wie auf dem Rasen.» Das war der Fussballer Maradona, magisch wie kein anderer, vielleicht nicht einmal Pelé. Messi, Cristiano Ronaldo, Di Stéfano, Eusebio, Cruyff, Charlton – grossartige Spieler. Aber Diego war Diego. Der Beste von allen, so das Ergebnis einer FIFA-Wahl im Jahr 2000. In Neapel und in Argentinien gar ein Fussballgott.
Aber da war auch der Mensch Maradona. Drogensucht, Nähe zur neapolitanischen Mafia, körperliche Gewalt, Steuerhinterziehung, positive Dopingkontrollen, mindestens sieben uneheliche Kinder mit mindestens vier Frauen, Millionen verprasst, falschen Freunden auf den Leim gegangen, gutgläubig, bösartig, Freund von Fidel Castro, Unterstützer des venezolanischen Despoten Nicolás Maduro. «Ich habe viele Fehler gemacht und viele Menschen enttäuscht», hat mir Maradona damals gestanden. «Aber ich habe dafür gebüsst und bin kein Monster.»
Argentinien und die Fussballwelt trauern. Die «Hand Gottes» ist heimgekehrt. Diesmal verdrücke ich die Träne nicht. Adiós, Diego!
Zum Gedenken an die Fussballkunst von Maradona, seine zwei berühmtesten Tore, beide gegen England 1986 erzielt: