Heisse Kartoffel für den Knurrer

Vor dem grossen Derby am Sonntag (20.30 Uhr) gegen Inter Mailand hat man bei der AC Milan wieder gross Ziele. Die Hoffnungen ruhen dabei vor allem auf einem: Trainer Gennaro Gattuso.

Carsten Meyer
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Milan ist seine Heimat: AC-Trainer Gennaro Gattuso. (Bild: Giuseppe Cottini/Getty (Mailand, 7. Oktober 2018))

Milan ist seine Heimat: AC-Trainer Gennaro Gattuso. (Bild: Giuseppe Cottini/Getty (Mailand, 7. Oktober 2018))

Als Milan-Spieler muss man dieser Tage gewaltig auf der Hut sein, wenn der eigene Trainer auf einen zujagt. Man weiss ja dann nie so genau, was einem gleich widerfahren wird. Die Bandbreite der Möglichkeiten ist nahezu grenzenlos. Vielleicht wird man geherzt. Vielleicht gibt es einen herzhaften Klaps. Vielleicht schimpft der Coach wie ein Rohrspatz. Oder er knurrt nur bedrohlich vor sich hin. Nicht mal eine herzhafte Grätsche ist komplett ausgeschlossen. Schliesslich heisst der Trainer: Gennaro Gattuso.

Ganze Generationen an Edeltechnikern wachen noch heute nachts schweissgebadet auf, wenn sie an die Duelle gegen den ehemaligen Mittelfeldspieler denken. In der letzten grossen Ära der AC Milan und der italienischen Nationalmannschaft gab es eine klare taktische Ausrichtung, die leicht (aber wirklich nur leicht) vereinfacht hiess: Vorne zaubert Andrea Pirlo – und dahinter knurrt, bellt und grätscht Gattuso alles weg, was nicht auf drei in der Kabine ist.

Auch ausserhalb des Platzes machte er die Dinge noch nie komplizierter, als sie sind. Und nicht wenige hielten es für eine ziemlich verwegene Idee des heute 40-Jährigen, als er 2013 die Trainerkarriere einschlug. Noch verwegener war nur die Auswahl seiner ersten Stationen. In Sion und Palermo hat noch kaum ein Trainer alle vier Jahreszeiten erlebt. Auf Kreta war die finanzielle Situation derart verfahren, dass Gattuso seinen Spielern aus eigener Tasche 57 000 Franken Weihnachtsgeld bezahlte. Und mit Pisa stieg er erst in die Serie B auf, ehe er zurücktrat, den Rücktritt vom Rücktritt erklärte – und ein Jahr später wieder abstieg. Um es kurz zu machen: Mit so einem Lebenslauf ist das Traineramt bei Milan nicht gerade die logische Konsequenz.

Gattuso und die Definition von Spass

Doch auch der Traditionsclub erlebte zuletzt nicht gerade eine Phase, die als goldene Ära in die Club-History eingehen wird. Als Milan Gattuso im November 2017 zum neuen Chefcoach ernannte, war die Situation so, dass selbst er an der Sinnhaftigkeit der Unternehmung zweifelte. «Ich habe nichts erwartet, als ich hier angekommen bin», sagt er, «ich wusste nur, dass mir eine heisse Kartoffel übergeben wurde. Ich mag es aber zu leiden. Ich kann Dinge, die zu einfach sind, nicht geniessen. Deshalb habe ich Milan gewählt – und weil der Club meine Heimat ist.»

Wenn das für Gattuso die Definition von Spass ist, kam er jedenfalls mächtig auf seine Kosten. In eineinhalb Jahren hat der Verein zweimal den Besitzer gewechselt – und im Sommer wurde Milan wegen Verstössen gegen das Financial Fairplay für zwei Jahre vom Europapokal ausgeschlossen. Ein Urteil, das kurz dar­auf wieder revidiert wurde. Zum Glück für Milan. Denn Gattuso hatte die Mannschaft mit dem Schweizer Nati-Linksverteidiger Ricardo Rodriguez als Stammkraft tatsächlich noch bis in die Europa League geknurrt.

Auch in dieser Saison läuft es bisher nicht so schlecht. Milan hat erst ein Pflichtspiel verloren. Und Captain Alessio Romagnoli verspricht für das Derby: «Das wird ein Spektakel.» Aus der erweiterten Zielsetzung macht er auch kein Geheimnis: «Wir wollen zurück in die Champions League.»

Die Hoffnungen ruhen dabei vor allem auf Gattuso, der sich auch als Trainer treu bleibt: Im Vordergrund stehen Mentalität und Leidenschaft. Und wenn ihn alle loben, winkt er nur müde ab. «Ich bin noch kein grossartiger Trainer», sagt er, «ich bin kein Taktik-Guru.» Einmal versteifte er sich gar auf die Aussage: «Vielleicht bin ich der schlechteste Trainer der Serie A. Aber ich will immer gewinnen.»

Vor allem heute Abend. Im grossen Derby.