Startseite
Sport
Fussball
Für Cristiano Ronaldo war im grossen EM-Showdown gegen Frankreich in Saint-Denis eine Hauptrolle vorgesehen. Er füllte sie dramatisch aus - auf und neben dem Platz. Und am Ende jubelte er so provokativ und selbstverliebt, wie man ihn liebt - und hasst.
Der erstmalige Gewinn der Europameisterschaft war ein Drama in drei Akten. In der Hauptrolle: Superstar Cristiano Ronaldo. Er nutzte den Final im Herzen von Paris als seine Bühne. Auf dem Platz, aber auch neben dem Platz. Willkommen zur Ronaldo-Show.
Der Abend begann, wie es sich die Portugiesen vorgestellt hatten: Eine Mannschaft angeführt von ihrem Star Cristiano Ronaldo und in der Gewissheit, dass er es schon richten werde. Irgendwie, irgendwann. Mehr als die Selbstgewissheit hatten die Protugiesen nicht, denn Gastgeber Frankreich galt allgemein als Favorit.
Dann nahm das Drama seinen Lauf. In der 8. Minute im EM-Final passiert es: Dimitri Payet attackiert Cristiano Ronaldo, trifft dabei Ball und Gegner. Das Knie. Während der Ball weiterrollt, bleibt «CR7» liegen.
Der französische Couloir-Spieler Dimitri Payet attackierte den gegnerischen Steuermann im Stil eines rücksichtslosen Terriers.
Der schwer getroffene Real-Superstar liess sich minutenlang behandeln, kehrte zurück, sank erneut auf den Rasen. Dann das deprimierende Signal: "Es geht nicht mehr."
Ein absurdes Bild. Der neben Messi momentan global wertvollste Fussballer sitzt regungslos auf dem Feld. Eine Motte lässt sich auf seiner Stirn nieder.
Der schwarze Schmetterling wirkt skurril, die Lichtgestalt nimmt das Insekt nicht wahr, zu tief und schlagartig war sie in den Schlund einer veritablen Depression gestürzt. Tränen kullern bei Ronaldo. Sein enttäuschtes Gesicht schockt die Portugiesen.
Schmerzen statt gloriose Dribblings, Ohnmacht weit abseits des Brennpunkts statt wundersame Aktionen, grenzenloser Frust bis zum spektakulären Happy End.
Nach 25 Minuten war der Final ein anderes Spiel, dem Treffen der EM-Grössen fehlte der Gigant - jener Protagonist, der wie der französische Prinz Antoine Griezmann in der Lage gewesen wäre, für die eine entscheidende Nuance zu sorgen.
Auf Klubebene hat "CR7" jeden Preis abgeräumt, seit 2008 gibt es nur einen Weltfussballer des Jahres: Ronaldo oder Lionel Messi.
Sein Output in Madrid ist magistral, sechsmal in Folge schoss über 50 Treffer pro Saison - seit seiner Unterschrift bei Real 364 in 348 Partien.
Die aussergewöhnliche Qualität des Stürmers aus Madeira erkannte Laszlo Bölöni, Ronaldos erster Coach in der portugiesischen Liga, schon nach zwei, drei Spielen: "Besser als Eusébio!"
Mit ManU und Real erreichte Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro, was er sich vom ersten Junioren-Tag an gewünscht hatte: "Geschichte schreiben im Weltfussball."
Nur das Beste ist genug für ihn, den exklusiven Hauptdarsteller, den egozentrischen Gewinner, den eigentlichen Galaktischen. Die höchsten Ziele verfolgte der beste Skorer des Kontinents selbstredend auch im Nationalteam. Im Kreis der Landesauswahl wirkte der nahezu stählerne Körper noch angespannter, die Brust noch aufgepumpter. Kurzum: Die Überfigur war besessen davon, die portugiesische Titelpremiere zu schaffen.
An der Seite früherer Weggefährten von Sporting war er schon jahrelang auf einer Mission und beseelt davon, den wichtigsten europäischen Gipfel zu besteigen. Dem Titelgewinn würde er (fast) alles unterordnen, sagten enge Begleiter von "CR7".
Kurios: Kaum war Ronaldo vom Feld, wirkte Frankreich, wirkte die Mannschaft von Deschamps, der die Equipe tricolore als Kapitän 1998 zum WM- und 2000 zum EM-Titel geführt hatte, plötzlich gehemmt. Chancen wurden ein Weile zur Mangelware.
Der Plan ging im 61. und wichtigsten Spiel der Saison trotzdem auf. Payet hatte ihn gestoppt, aber die Teamkollegen lehnten sich gegen das Schicksal ihres Leaders auf. Sie stemmten sich mit allen Mitteln gegen die anstürmenden Franzosen, derweil der verletzte Hoffnungsträger mit einer dicken Bandage um das linke Knie auf der Ersatzbank ohne Ende litt.
Frankreich war trotz allem überlegen und hatte eine Vielzahl von Chancen, doch auch Antoine Griezmann, der zwei seiner sechs EM-Treffer im Halbfinale gegen Deutschland (2:0) erzielt hatte, brachte den Ball nicht im Tor unter. Seine größte Chance war ein Kopfball in der 66. Minute.
Als Joker Eder in der 109. mit seinem Weitschuss die auf eigenem Boden an Endrunden zuvor seit 1960 ungeschlagenen Einheimischen mitten ins Herz traf, krümmte sich Ronaldo vor Freude - nicht vor Schmerz.
Zu diesem Zeitpunkt tigerte Ronaldo längst an der Seitenlinie herum. Auf der Bank hatte er es nicht ausgehalten. In der Coaching-Zone machte er Trainer Santos das Amt streitig, wedelte rief und dirigierte. Santos liess seinen Star gewähren. Nur den Freudenschubser durch Ronaldo fand er weniger toll.
Ronaldo machte also an diesem Abend seine Show nicht auf, sondern neben dem Platz. Immer wieder schwenkten die Fernsehkameras auf den Spieler, der nicht mehr auf dem Feld stand. Alle Emotionen wurden eingefangen. Die Trauer. Der Frust. Die Aufmunterung für seine Mitspieler vor der Verlängerung. Die Tränen der Freude, als der Sieg feststand. Die schier grenzenlose Ausgelassenheit.
Am Ende nannte Cristiano Ronaldo den Gewinn des EM-Titels als "einen der glücklichsten Momente meines Lebens". Nach dem Sieg erinnerte er außerdem an die Euro 2004 im eigenen Land, als die Gastgeber das Endspiel gegen Griechenland verloren hatten. "Ich habe seit 2004 dafür gebetet, dass ich noch eine Chance bekomme", sagte Ronaldo. Der Superstar der Portugiesen hatte beim Endspiel 2004 als 19-Jähriger auf dem Platz gestanden.
Als sein Lebenstraum Wirklichkeit wurde, sank Cristiano Ronaldo weinend zu Boden, rücklings, ein Betreuer warf sich auf seine zitternde Brust. Sekundenlang lagen sie so da, Ronaldo streckte die Arme von sich, dann erst humpelte er zu seinen ekstatischen Mitspielern in die Fankurve.
Wenn Freude ein Gesicht hat, dann war es am Ende jenes von Ronaldo. Der 31-Jährige war zeitweise völlig ausser sich. Nach der Pokalübergabe wollte er für jeden Fotografen einzeln ein Sujet abgeben, posierte hier, posierte da, gab den Pot nur widerwillig her. Er posierte mit nacktem Oberkörper, erhielt von Betreuern schliesslich ein Shirt übergestreift.
Der Superstar hat mit Portugal an einem dramatischen Abend doch noch den EM-Titel geholt - und er hat die Franzosen von der Erfüllung einer nationalen Mission abgehalten.
Jetzt ist Cristiano Ronaldo der Grösste: grösser als die einstigen portugisischen Helden Eusébio und Figo. (jk)