WM-Final
DFB-Chefscout Siegenthaler: «Ich will Löw auf keinen Fall enttäuschen»

Im DFB amtet Urs Siegenthaler (66) als Chefscout. Für einige Beobachter der deutschen Equipe ist er einer der engsten Mitarbeiter von Trainer Joachim Löw. In einem Fifa-Report war in seinem Zusammenhang gar vom "Souffleur" die Rede.

Sven Schoch (si)
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Urs Siegenthaler versorgt Bundestrainer Joachim Löw nicht nur mit Informationen über den Gegner, er unterstützt ihn auch sonst.

Urs Siegenthaler versorgt Bundestrainer Joachim Löw nicht nur mit Informationen über den Gegner, er unterstützt ihn auch sonst.

Zu Beginn seines bald zehnjährigen Engagements beim Deutschen Fussball-Bund sei er nur eine Einzelmaske gewesen, sagt der frühere Ingenieur, Spieler des FC Basel und Coach über sich selber.

Heute steht der führende Sport-Analyst dem Analysten-(Scouting-)Team hinter der DFB-Auswahl vor: «Wenn mich der Trainer etwas fragt, muss ich ihm sagen können: Kein Problem, ich weiss es.»

Unmittelbar vor der Final-Reprise von 1990 gegen Argentinien in Rio de Janeiro hat sich Siegenthaler mit der Sportinformation ausführlich über den schwierigen Weg an die internationale Spitze unterhalten und das erfolgreiche deutsche Modell analysiert.

Urs Siegenthaler, ist Erfolg in irgendeiner Form planbar?

Urs Siegenthaler: Erfolg ist im Prinzip immer planbar, in der Wirtschaft aber vielleicht eher als im Sport. Dort kommen unter Umständen mehr Unabwägbarkeiten dazu - das Wetter, kurzfristige Resultat-Änderungen, et cetera. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass der Erfolg auch im Sport planbar ist.

Das in den letzten zehn Jahren aufgebaute DFB-Projekt wirkt bis ins letzte taktische Detail durchdacht.

Der Eindruck von aussen trügt nicht. Sagen wir es einmal so: Ein versierter Begleiter des Coachs oder ein guter Analyst sind ja nicht jemand, der mal irgendwo hinfährt, irgendetwas beobachtet und dann sagt: 'Ach ja, das ist so.' Ein guter Analyst registriert den Ist-Zustand und skizziert, wohin der künftige Weg führen soll. Dementsprechend plant und leitet er Schritte ein. Mich störte die zu simple Darstellung manchmal, der Siegenthaler habe Joachim rapportiert, und das Team hat dann wieder gewonnen.

Was irritierte Sie an dieser Darstellung?

Würde man einen Architekten auch auf diese Weise beschreiben? Schicken mich Herzog & De Meuron nach New York, um zu sehen, wie dort gebaut wird? Stellen Sie sich vor, ich käme zurück und würde sagen: 'Jacques Herzog, dort stehen alles hohe Häuser, mit vielen Glasfassaden. Es ist toll, das schaue ich mir wieder mal an.' Dann wäre er doch masslos enttäuscht. Er würde doch erwarten, dass ich vom Stil, vom Material, von der Art der Konstruktion erzähle. Welche Unternehmen könnten involviert sein, sind die Energieprobleme gelöst, ist das überhaupt umsetzbar hier? Auch im Fussball-Business ist der Fragenkatalog imposant. Rudimentäre Infos und Phrasen genügen längst nicht mehr, wenn man hohe Ziele verfolgt.

Es geht demzufolge auch darum, Tendenzen zu erkennen und theoretische Schlussfolgerungen konkret auf dem Feld umzusetzen?

Klar stellt man sich die Frage: Wohin entwickelt sich der Fussball überhaupt? Und klar ist auch: Man muss die bestehenden Regeln in diesem Sport selbstverständlich respektieren. Sonst können wir die Felder gegen Fitnesszentren eintauschen - um robuste, muskulöse Sportler auszubilden, die jeden Gegner wegpflügen und dank Gottes Hilfe womöglich mal noch ein Tor schiessen.

Müssen Sie auch erkennen, was richtungsweisend oder bahnbrechend ist?

Der nächste Schritt ist herauszufinden, ob das Material überhaupt vorhanden ist, einen solchen Stil anzupeilen. Was und wie bauen wir etwas auf? Besitzen wir denn die Spieler, um auf Angriff zu setzen? Wie trainiert man das? In welcher Art zeigt man den geeigneten Weg auf?

Ist es in einem Land mit vielen ehemaligen Europa- und Weltmeistern schwierig, eine eigene Philosophie zu etablieren, von alten Tugenden abzurücken, eine neue Form des Fussballs zu prägen?

In diesem Zusammenhang gehen mir tausend Dinge durch den Kopf. Ich beispielsweise benötigte einen Bundestrainer, der mir zuhört, der sich überzeugen lässt, der bereit, ist Vorschläge anzunehmen. Zweitens ist ein Arbeitgeber nötig, der hinter einem steht. Das Präsidium des DFB bekennt sich durch dick und dünn zu diesem Team. Sie haben unsere Idee bekräftigt und sind bereit, einen steinigen Weg zu gehen.

Andere überzogen den DFB regelmässig mit Kritik.

Vielen fällt es schwer, das grosse Bild zu schaffen, weil die Detailkenntnisse fehlen. Wenn man 30 Jahre gespielt hat, ist man nicht zwingend ein guter Sportchef oder ein geeigneter Jugendleiter. Ich könnte es auch so formulieren: Nur weil ich schon seit dreissig Jahren Auto fahre, nimmt mich kein Automobil-Konzern im Verwaltungsrat auf. Ich jedenfalls würde mich nie professionell auf Bereiche einlassen, die mir nicht in einer gewissen Form vertraut oder bekannt sind. Ich würde den San Francisco 49ers nicht erklären wollen, wie man Football spielt.

Wie schwierig ist es zu ertragen, dass in Deutschland an jedem Turnier nur immer der Titel zählt? Manchmal musste sich das Team sogar für Siege schon fast entschuldigen.

Ich beantworte Ihre Frage mit einer Gegenfrage: 'Wie oft darf ich in einem überspitzten Mass kritisch sein, ohne Gefahr zu laufen, dass die Betroffenen irgendwann mal genug haben?' Es gibt aber auch in Deutschland zum Glück sehr gemässigte Beobachter und Kommentatoren.

Das 7:1 gegen Brasilien hat dann aber landesweit eine grenzenlose Euphorie ausgelöst. Bei Ihnen auch?

Ich bin einer, der seine Arbeit zu jeder Zeit extrem kritisch beleuchtet. Nokia hatte einst auch gute Analysten, verpasste aber komplett den Anschluss. Chevrolet bewegte sich dank einer ebenso starken Forschungsabteilung in der gleichen Kategorie - Anschluss völlig verpasst. Was ich sagen will: Entscheidend ist auch nach solchen Partien die Umsetzung des Wissens, die optimale Verwertung der Infos. Das richtige Coaching zählt.

Apropos Coaching - Sie pflegen ein spezielles Verhältnis zu Joachim Löw. Können Sie ihre Beziehung zu ihm etwas näher beschreiben?

Joachim hat eine enorm wichtige Begabung: Er kann zuhören. Seine Empathie ist extrem gross. Unsere Basis ist das Vertrauen. Er hat einst in Magglingen den Trainerlehrgang des SFV besucht und mir später einmal erklärt, dass er dort einige lehrreiche Momente erlebt habe. Er ist überzeugt von meiner Arbeit, und ich will Löw auf keinen Fall enttäuschen. So ergab sich eine Freundschaft. Er wird immer einen Freund haben in der Schweiz.

Für was steht die Ära Löw, die Sie mitgeprägt haben?

Der Bundestrainer will einen technisch geprägten Fussball sehen, er steht für einen intelligenten Fussball. Wir haben uns vor 10 Jahren entschlossen, einen neuen Weg einzuschlagen, andere Qualitäten in den Vordergrund zu rücken. Weg von den Grätschen zum technisch sauberen Fussball, der die Zuschauer begeistern kann.