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Während manchen Spielen schaute er mit seinen hellen Augen weit, weit in die Ferne. Wer ihm zusah, konnte den Eindruck haben, er sehe irgendwo hinter dem Stadion ein anderes, noch wesentlich wichtigeres Spiel. Gianluigi Buffon schien oft ein wenig abwesend zu sein.
Dabei war er immer da, wenn es ihn brauchte. Sagenhafte 20 Jahre lang stand Buffon für die italienische Nationalmannschaft zwischen den Pfosten. Bei Buffons Debüt im Oktober 1997 war sein designierter Nachfolger Gianluigi Donnarumma (18) noch nicht einmal zur Welt gekommen.
Manche Fussballfans erinnern sich an die Europameisterschaft im Jahr 1996 in England. Dort hiess der italienische Torhüter Angelo Peruzzi. Dieser Peruzzi war kräftig, angsteinflössend und ausserdem im besten Sportler-Alter. Es schien, als könnte er für längere Zeit italienischer Stammtorhüter bleiben.
Niemand ahnte damals, dass der bärenstarke Peruzzi bald einem melancholischen Teenager aus der Toskana würde weichen müssen. Doch auf einmal erschien die Squadra Azzurra mit jenem traurig dreinblickenden Jüngling, den alle nur Gigi nannten und von dem es hiess, er sei in der Marmor-Stadt Carrara aufgewachsen und er vollbringe Wundertaten im Tor des bescheidenen Parma Calcio.
Wer hätte damals ahnen können, dass dieser schüchterne Gigi zwanzig Jahre später als 175-facher Nationalspieler, fünfmaliger WM-Teilnehmer und Weltmeister von der internationalen Bühne abtreten würde?
Gianluigi Buffon war kein Strafraumkrieger wie der deutsche Oliver Kahn. Er war kein Riese wie der Holländer Edwin van der Sar. Auch das verbale Zusammenstauchen seiner Vorderleute gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten. Buffons Erkennungszeichen war die schlichte Eleganz. Selbst hartnäckige Regenphasen, bei denen der Boden vor den Fussballtoren besonders schlammig wird, konnten seiner makellosen Erscheinung nichts anhaben.
Die in Zyklen auftauchenden modischen Peinlichkeiten der Fussballbekleidungsindustrie hat er stilsicher ignoriert. Locker wie ein Dandy, der die Strandpromenade vom Rimini auf und ab schlendert, betrat Buffon jeweils die Arena. Welche Explosionskraft jedoch in diesem scheinbar sanftmütigen Goalie steckt, liess sich an Länderspielen beim Absingen der Nationalhymne erahnen. Mit angsteinflössendem Pathos brüllte er die Strophen von «Fratelli d’Italia» ins Stadion.
Dass das Hymnensingen an Fussballspielen in den letzten Jahren selbst in den dreckigsten Niederungen der hiesigen Onlinekommentarkultur zu einem beliebten Diskussionsthema geworden ist, hat vor allem mit Buffons Gesangskünsten zu tun. Doch dort, wo es um Zeichen vermeintlicher Heimatliebe geht, hatte Buffon auch eine dunkle Seite. Seine stille Sympathie für Lieder und Symbole des Faschismus hat er nie ernsthaft dementiert.
Einmal gab er ausgerechnet am Jahrestag der Befreiung Italiens im Zweiten Weltkrieg ein Mussolini-Zitat zum Besten. Zu seiner Entlastung geben manche Szenenkenner zu bedenken, dies seien eher Ausdrücke historischer Ignoranz als brauner Gesinnung. Und tatsächlich möchte, wer ihm bei der Arbeit zuschaut, nur an die Schönheit und Würde denken, die von seinem Spiel ausgehen.
Buffon gehört zu den Torhütern, die aus der Nähe kaum zu bezwingen sind. Zu seinen grössten Stärken gehört das Vorausahnen der Situation. Schon in seinen Anfängen hatte er diese Coolness, die es ihm erlaubte, so lange zu warten, bis der gegnerische Stürmer handeln musste. Duelle zwischen Stürmer und Goalie gleichen im Fussball oft einem Pokerspiel.
Es geht darum, wer am längsten bluffen kann, wer am längsten so tun kann, als stünden ihm noch sämtliche Handlungsmöglichkeiten offen. Hierfür braucht es innere Ruhe. Diese Ruhe strahlte Buffon gerade dann aus, wenn es besonders hektisch wurde.
Unvergessen ist etwa das Champions-League-Spiel in Barcelona im letzten Frühling. Buffons Juventus Turin hatte das Hinspiel in Italien mit 3:0 gewonnen. Für das Rückspiel hatten die Barcelona-Starstürmer Messi, Suárez und Neymar eine spektakuläre Aufholjagd angekündigt, wie sie ihnen kurz zuvor gegen Paris Saint-Germain geglückt war.
Von der ersten Minute an rannten die weltbesten Angreifer auf Buffons Kasten zu. Aber Buffon und seine Verteidigerkollegen machten alle Bemühungen der Barcelona-Goalgetter mit scheinbarer Leichtigkeit zunichte. Es waren nicht Buffons Paraden, welche die Gegner verzweifeln liessen. Es waren die coolen Beruhigungsgesten, mit denen er seinen Mitspielern zu sagen schien: «Ruhig Freunde, uns kann nichts passieren.»
Wir Fans hatten uns in den letzten 20 Jahren an einen Italien-Goalie gewöhnt, der immer sportlich auftrat, der selbst bei unglücklichen Gegentoren die Haltung bewahrte und stets eine freundschaftliche Geste für Mit- und Gegenspieler hatte. Die Vorstellung, dass sich daran noch lang nichts ändert, wäre uns leichtgefallen.
Es brauchte den abgefälschten Weitschuss eines beinahe namenlosen Schweden im ersten Barrage-Spiel, um Buffons einmalige Karriere zu beenden. Die sechste und letzte Weltmeisterschaft bleibt ihm verwehrt. Nicht nur Italien weint.