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Frecher Aufsteiger gegen langjährigen Platzhirsch: Aufsteiger RB Leipzig, punktgleich mit Bayern München an der Tabellenspitze, mischt die Bundesliga auf. Heute Abend kommt es zum Direktduell. Das Spiel könnte zum vorläufigen Meisterstück von Ralf Rangnick werden.
Dezember 1998. «das aktuelle sportstudio» macht Taktikschulung. Ralf Rangnick darf Samstagnacht im ZDF der Republik erklären, wie richtiger Fussball aussieht. Mit randloser Brille und zu weit geschnittenem dunklen Anzug doziert er – allein sein schwäbischer Dialekt wirkt überkorrekt und altklug – über Viererkette, ballorientierte Abwehrarbeit, Pressing, Grundordnung. Nur:Was befähigt diesen 40-jährigen No-Name, im Land des amtierenden Europameisters einen auf Fussball-Guru zu machen? Etwa seine Spielerkarriere? Kaum, schliesslich wurde er bei Ulm nach dem Aufstieg in die 2. Liga aussortiert. Seine Erfolge als Trainer? Eher. Aber mit Verlaub – Rangnick trainiert Ulm und nicht Bayern München oder den VfB Stuttgart.
Doch Rangnick macht diesen Taktik-Crashkurs an der Magnettafel so gut, dass selbst die Frau vom damaligen Bundestrainer Erich Ribbeck vor dem Fernseher gesagt haben soll: «Erich, das hab sogar ich verstanden – warum lässt du nicht so spielen?» Aber eben:Wer ist Rangnick? Erst recht, in einem Land,dessen letzte Fussball-Instanz der Kaiser himself ist. Mag ja sein, dass Ulm unter Rangnick als «Insel des modernen Fussballs» geadelt wird. Aber Ulm ist 2. Liga. Und so haftetdem Auftritt Rangnicks trotz aller Plausibilität etwas Schulmeisterliches an. Taktiktafel-Professor halt, dieser Ruf begleitet ihn bis heute. Ist ja auch nicht völlig falsch. Schliesslich ist der Schwabe im «richtigen Leben» Lehrer für Englisch und Sport.
Gewiss ist Rangnick ein rationaler, analytischer Mensch. Einer, der den Fussball wissenschaftlich seziert, nach dunkeln Ecken sucht, diese ausleuchtet und möglichst alles ausreizen will. Für Hokuspokus halten das hemdsärmelige Traditionalisten. So auch, dass er als Trainer von Hoffenheim einen Biomechaniker verpflichtete. «Wenn sich ein Biomechaniker mit dem Bewegungsablauf der Spieler befasst, kommen noch mehr Erkenntnisse raus.» Und siehe da: Spieler, die vorher vorzugsweise hinters Tor geflankt haben, entwickelten sich zu regelmässigen Torvorbereitern.
«Für mich ist Fussball Entwicklungsarbeit, denn ich glaube, dass man Leistung planen kann.» Oder: «Fussball ist nie Gegenwart, Fussball ist Zukunft.» Rangnick sagt diese beiden Sätze nicht nur, er lebt sie. Sie sind sein Mantra. Spätestens, seit er als blutjunger Trainer in der Sportschule Ruit (Stuttgart) die Arbeit der sowjetischen Trainerlegende Waleri Lobanowski analysiert hat. Raumdeckung und Pressing waren in den 80ern in Deutschland noch so fremd wie Smartphones. Doch Rangnick saugt alles auf, kopiert, ergänzt und ist bald seiner Zeit voraus – und bleibt dies bis heute.
Rangnick ist ein genialer Fussball-Nerd. Aber deswegen nicht frei von Emotionen. Denn Rangnick ist auch ein Wettkampf-Typ, bisweilen ein hochexplosiver. Als kleiner Junge schmeisst er seinem Ur-Opa ein Spielzeug-Feuerwehrauto an den Kopf, weil er beim Mensch-ärgere-dich-nicht verliert.
Als Trainer von Hoffenheim wirft er mal drei Wasserflaschen durch die Kabine. Seine Spieler verwandeln in einem spektakulären Spiel in Bremen einen 1:4-Rückstand in ein 4:4. Schliesslich verlieren sie aber 4:5. Schnurstracks geht Rangnick in die Kabine. Wartet. Nach fünf Minuten sagt er einem seiner Assistenten, er solle mal draussen nachsehen,wo die Spieler blieben. Diese machen mit den Fans La Ola und tauschen mit den Bremern fröhlich Trikots. «Als die Spieler kamen, habe ich geschrien: Machen wir jetzt einen auf Harlem Globetrotters? Habt ihr alle euer schönes Werder-Trikot als Trophäe? Können wir jetzt zufrieden nach Hause fahren? Dann habe ich die Plastikflaschen durch die Kabine gepfeffert.»
Apropos Kabine. Auf Youtube ist eine Kabinen-Ansprache von Rangnick zu sehen. Es ist vor dem 33. Spieltag in der vergangenen Saison. RB Leipzig, Rangnicks jüngstes Fussball-Kind, in der Republik als Retortenklub verhöhnt, bisweilen sogar als ansteckende Krankheit assoziiert, weil allein der Red-Bull-Millionen wegen die Antithese zur sozialromantischen Fata Morgana namens Traditionsklub, steht kurz vor dem Aufstieg in die 1. Liga. Zwei Punkte aus den letzten beiden Spielen – und Leipzig wäre erstklassig. Rangnick beginnt in moderater Lautstärke. Er kritisiert, dass in den letzten drei Spielen das Wir-Gefühl gefehlt habe. Er dreht das Stimmvolumen auf, verstummt dann und löscht plötzlich das Licht in der Kabine. Macht es wieder an und schreit: «Steht auf! Ich will da draussen eine Truppe voller Krieger! Schlagt zurück mit allem, was ihr habt! Da, wo wir hin wollen, kriegen wir nichts geschenkt. Deshalb geht jetzt raus und holt, was ihr holen wollt!» Die roten Bullen von Leipzig gehen raus, gewinnen gegen Karlsruhe 2:0 und feiern den Aufstieg.
Zimperlich ist der 58-Jährige nicht. Am wenigsten mit sich selbst. Als er nach viereinhalb Jahren die TSG Hoffenheim – Rangnick führte den Klub in zwei Jahren von der Drittklassigkeit in die 1. Bundesliga – am Neujahrstag 2011 verlässt, ist er ein müder Trainer. Dessen ist er sich bewusst. Und er beschliesst, mindestens sechs Monate zu pausieren. Doch Rangnick ist ein Besessener.Statt zu pausieren, fliegt er nach London, umdort Chelsea-Sportdirektor Frank Arnesen zutreffen, weil dieser zum HSV wechseln könnte und Rangnick herausfinden will, ob es mit Arnesen funktionieren könnte. Und er reist nach Belgien, um bei Genk einen jungen Torhüter anzuschauen und um zu erfahren, ob der Torhüter gut genug ist, um sein nächster Torhüter zu werden. Rangnick macht vieles, nur nicht wirklich Pause. Und weil er vieles am liebsten allein macht, hat er 2004 auch Jürgen Klinsmanns Angebot als Assistent der Nationalmannschaft abgelehnt. Ein Job notabene, der Jogi Löw als Sprungbrett diente.
Als am 21. März 2011 Schalke 04 ruft – Rangnick verliess die «Knappen» 2005 im Unfrieden – ist die Pause nicht mehr aktuell. Mit Rangnick zieht Schalke in den Champions-League-Halbfinal ein und gewinnt den Pokal. «Nur wer brennt, kann Feuer entfachen», hört man Rangnick immer wieder sagen. Aberes gilt auch: Nur wer selbst brennt, kann verbrennen. Und das tut Rangnick. Bereits am 22. September gibt er auf Schalke seinen Rücktritt. Rangnick leidet an einem vegetativen Erschöpfungssyndrom, ist körperlich am Ende.
Dieses Mal macht er richtig Pause und kehrt erst neun Monate später als Sportdirektor von Red Bull Salzburg in den Fussball zurück. Darüber hinaus ist er auch für dieEntwicklung von RB Leipzig zuständig, das zu diesem Zeitpunkt noch viertklassig ist. Kurz: Rangnick ist in der prosperierenden Red-Bull-Fussball-Division der starke Mann. Und im Gegensatz zu seinem Engagement in Hoffenheim kann er als Ober-Bulle seine Ideen und Visionen noch radikaler umsetzen.
Natürlich auch, weil er dazugelernt hat: Mit dem Aufstieg in die 2. Bundesliga verlegt er seinen Fokus. Weg vom österreichischen Serienmeister, hin zum sächsischen Emporkömmling. Und als sich Leipzig von Trainer Zorniger trennt, gibt Rangnick für die Saison 2015/16 ein Comeback als Trainer. Aber entscheidender für den kometenhaften Aufstieg Leipzigs ist nicht Rangnicks Intermezzo als Trainer, sondern seine Arbeit als Chefstratege.
Rangnicks Spielstil mit Raumdeckung, ballorientierter Defensivarbeit, Umschaltspiel und Pressing gehört längst zum Standardrepertoire im zeitgenössischen Fussball. Aber nirgends wird es kompromissloser praktiziert als in Leipzig mit Trainer Ralph Hasenhüttl – Rangnicks Alter Ego – und Spielern wie schäumende Bullen. Rangnick erklärt: «Was passiert, wenn der Gegner den Ball hat? Das ist unser Ansatz, um Kontrolle zu gewinnen und Chancen zu kreieren. Alles, was passiert, wenn wir den Ball haben, ergibt sich daraus.» Weiter: «Speed, Spielwitz, Tiefgang – um diese drei Dinge geht es in unserem Offensivspiel.
Denn die meisten Tore schiessen wir fünf bis zehn Sekunden nach Ballgewinn.» Oder: «Wir definieren Spielkontrolle nicht über Ballbesitz-Anteile, sondern über die Anzahl unserer Sprints.» Oder: «In Hoffenheim war uns gar nicht so bewusst, dass die geballte Wucht einer Balleroberung ein echtes Angriffsmittel sein kann. Heute wissen wir, dass sogar die Qualität einer Torchance zunimmt, je mehr Dynamik vorher in der Balleroberung steckt, weil du das Tempo mitnimmst.» Deshalb gilt: «Unsere Spiele und unsere Trainings sind Vollgasveranstaltungen.»
2009/10
Am 19. Mai 2009 wird RB Leipzig gegründet. Durch die Übernahme der Lizenz des SSV Markranstädt startet der neue Klub in der Saison 2009/10 in der Oberliga Nordost (5. Liga).
2012/13
Ralf Rangnick wird als neuer Sportdirektor von RB Leipzig vorgestellt. Das Team schafft in der dritten Saison in der Regionalliga den Aufstieg in die 3. Liga.
2013/14
In der folgenden Saison marschiert RB Leipzig gleich durch und steigt folgerichtig in die 2. Bundesliga auf.
2015/16
Schon in der zweiten Saison in der 2. Bundesliga legt Leipzig nach: Der zweite Platz zum Ende der Spielzeit reicht für den Aufstieg in die höchste Spielklasse, die 1. Bundesliga.
Rangnick jagt auf dem Transfermarkt ausschliesslich Spieler, die 23 und jünger sind. Denn die jungen Spieler laufen schneller, laufen mehr, regenerieren und lernen schneller. «Grundsätzlich sind junge Spieler bedingungsloser bereit, sich in das Team einzubringen, alles dafür zu investieren», sagt Rangnick. Und die wirtschaftliche Komponente fliesst auch in Rangnicks Überlegungen.Wer für einen 28-jährigen Spieler 15 MillionenAblöse bezahlt, macht daraus normalerweise keine 20 Millionen. Ausserdem fehlt einem 28-Jährigen, der in seiner Karriere nie mit dem System Rangnick in Berührung gekommen ist, die Zeit für die Adaption.
Die sächsische Vollgasveranstaltung ist atemberaubend. Und heute tritt der Aufsteiger Leipzig in München zum Spitzenspiel an. Bayern und Rangnick, da war doch mal was. 2008. Damals berauschte er als Trainer mit Hoffenheim die Liga mit Spektakel-Fussball. Der Aufsteiger kam kurz vor Weihnachten als Leader nach München. Was bei den Bayern für ziemlich viel Nervosität gesorgt hatte.
Und wenn Bayern nervös ist, übernimmt die Abteilung Attacke mit Uli Hoeness an der Spitze. Rangnick konterte Hoeness’ Giftpfeile mit dem Satz: «Wir fahren nicht nach München, um Autogramme, sondern um ihren Skalp zu holen.» Hoffenheim kassiert in der Nachspielzeit das 1:2. Auch, weil Rangnick nicht rechtzeitig wechselt, wie er später selbst einräumt. Rangnicks Team bleibt zwar Leader, aber das Spiel in München ist der Anfang vom Ende des Hoffenheimer Fussball-Märchens. Am Schluss resultiert Rang 7.
Nun wieder: Rangnick ante portas. Dieses Mal mit Leipzig. Und in München wächst die Anspannung. Hoeness, nach verbüsster Sperre wieder auf dem Bayern-Thron, feuert wieder. Und Rangnick? Der bleibt gelassen: «Es stimmt doch, wenn Hoeness sagt, dass wir unter der Woche die Beine hochlagern können, während die Bayern in der Champions League Körner lassen.»