Unter Druck gelingt der Schweiz gegen die Türkei die beste Turnierleistung. Das 3:1 und vier Punkte sollten für die EM-Achtelfinals reichen.
Ehre, Ruf und Selbstverständnis – es steht für Trainer Petkovic und seine Spieler viel gegen die Türkei auf dem (EM-)Spiel. Die einzige Option in der wichtigsten Begegnung seit drei Jahren ist die eines Sieges. Und dann gelingt den Schweizern eine Leistung, die diesen Namen auch verdient.
Beim 3:1 glänzen Shaqiri und Seferovic mit Toren, Xhaka als Leader, Sommer mit starken Paraden, Zuber mit Tricks und Pässen. Vor allem: Die Schweizer agieren solidarisch und mit ganzem Herzen, laufen dieses Mal fast vier Kilometer mehr als der Gegner. Sie finden mit dem Erfolg, dem dritten an einer Endrunde unter Petkovic, zurück in die Spur, die als Gruppendritte mit vier Punkten in die Achtelfinals führen sollte. Wenn nicht alles in den nächsten Tagen mit dem Teufel zu- und hergeht.
Es bleibt einzig der leise Vorwurf, mit mehr Effizienz nicht als Gruppenzweite den direkten Weg in die K.-o.-Runde genommen zu haben. Petkovic sagt:
«Ich bin optimistisch, dass wir im Turnier bleiben. Es war nicht einfach für uns, auch die vielen Reisen.»
Noch schwieriger ist die Ausgangslage für die Türken gewesen, und sind sie vor der dritten Partie schon fast ausgeschieden, sind sie es nun ganz und verabschieden sich mit einem Nuller. Dabei haben sie in Baku ein neuerliches Heimspiel, wie schon gegen Wales, und angetrieben von ihren 16'000 türkischen Fans legen sie auch gleich los wie die Feuerwehr. Es braucht bereits nach vier Minuten Goalie Sommer beim Distanzschuss von Ayhan.
Doch dann ist die Schweiz da, sechs Minuten sind gespielt, als Seferovic der Bestimmung des Stürmers gerecht wird. Er beschenkt die Schweiz mit einem Tor und damit mit etwas, das sie von ihm an Endrunden seit der WM 2014 (gegen Ecuador) nie mehr erhalten hat. Aus der Drehung und 20 Metern zieht er trocken ab, trifft mit seinem Flachschuss in die weite Torecke. Prädikat: Sonderklasse. Das Tor bringt die Türken durcheinander, und im Olympiastadion in Baku ist es jetzt still.
Dennoch müssen die Schweizer auf der Hut bleiben nach dem perfekten Start, das beweist der Abschluss von Müldür – Sommer ist wieder zur Stelle. Die Kontrolle behalten sie dennoch, vor allem offenbaren sie Willen, Ruhe, Kampf, auch Stolz, sind eine feurige Einheit. Charaktereigenschaften und Tugenden, die gegen Italien gefehlt haben. Werte aber, die jede Mannschaft im Fussball braucht.
Und sie zeigen den Schuss Genialität, der auf der internationalen Bühne nötig ist. Keiner steht besser hierfür als Shaqiri. Sein Tor fällt in einer Phase Mitte der ersten Halbzeit, in der die Schweizer das Geschehen im Griff haben. Und Shaqiri, bei Liverpool Edelreservist, zeigt sein Potenzial mit dem Schlenzer ins Lattenkreuz, und das noch mit dem schwachen rechten Fuss.
Die Schweizer machen das jedenfalls sehr gut gegen die im Schnitt um zwei Jahre jüngeren Türken, die aber im Total auch um 221 Länderspiele unerfahrener sind. Insbesondere gelingt es Petkovic, an den richtigen Rädchen zu schrauben. Schär und Mbabu spielen nicht, Rodriguez dafür in der Dreierkette, und Zuber wie Widmer sind die Aussenläufer, vor allem Zuber spielt gut.
Was sich die Mannschaft von Petkovic aber mit Fortdauer der Partie vorwerfen muss. Sie nützt die Chancen nicht, weder Shaqiri (29.), der alleine auf Cakir loszieht, noch Seferovic (42.). Deshalb braucht es immer wieder Sommer. Nach einem Konter vor dem Pausenpfiff hält er abermals gegen Müldür, es ist schon das dritte Mal gegen den Profi von Sassuolo. Es kommt einer kleinen Privatfehde gleich, immer mit dem Sieger Sommer.
In der zweiten Halbzeit ist von den Türken lange nichts zu befürchten. Und weil Wales zeitgleich in Rom hinten liegt gegen Italien, gibt es das Schielen auf den zweiten Gruppenplatz. Weshalb es umso mehr schmerzt, dass auch Zuber (49./51) und Embolo (52.) gute Möglichkeiten auslassen. Ebenfalls Shaqiri (57.), als er nach einem Pass Embolos freistehend aus 13 Metern über das Tor schiesst.
Oder Seferovic, dessen Abschluss Cakir pariert. «Ja, wir hätten ein, zwei Tore mehr erzielen müssen», sagt Shaqiri, der Mann des Spiels. Und dann passiert das, was niemals passieren darf. Die Schweizer werden nachlässig, gewähren dem Gegner plötzlich mehr Raum. Keiner weiss diesen besser zu nutzen als Kahveci in der 62. Minute mit dem Schlenzer vorbei an Sommer ins Tor – unfassbar, wie Rodriguez den Schützen gewähren lässt. Jetzt ist auch das Publikum mit ihrem «Türkiye» wieder da, Trainer Günes ebenfalls mit drei frischen Spielern.
Das beste Rezept gegen diese aufkommende Morgenluft? Sofort reagieren. Es ist abermals Shaqiri, dem das in der 68. Minute mit seinem 25. Treffer in einem Länderspiel gelingt, besonders zu erwähnen ist die wunderbare Vorarbeit von Zuber. Später trifft Xhaka mit einem Freistoss den Pfosten.
Ja, die Schweizer haben gefühlt Chancen für zehn Spiele, weshalb Petkovic «kein perfektes, aber ein gutes Spiel» gesehen hat, und dieser Wermutstropfen bleibt. Sie müssen warten – aber nicht auf Godot. Auf Schützenhilfe. Das hätte nicht sein müssen. Und das bleibt der einzige Vorwurf an diesem ansonsten schönen Abend in Baku, in dem die Schweizer erstmals überhaupt siegen.
Baku – 17138 Zuschauer – SR Vinčić (SLO).
Tore: 6. Seferovic 1:0. 26. Shaqiri 2:0. 62. Kahveci 2:1. 68. Shaqiri 3:1.
Schweiz: Sommer; Elvedi, Akanji, Rodriguez; Widmer, (92. Mbabu) Freuler, Xhaka, Zuber (85. Benito); Shaqiri (75. Vargas); Seferovic (75. Gavranovic), Embolo (85. Mehmedi).
Türkei: Cakir; Celik, Demiral, Söyüncü, Müldür; Ayhan (64. Yokuslu); Ünder (80. Karaman), Tufan (64. Yazici), Kahveci (80. Kökcu), Calhanoglu (86. Toköz); Yilmaz.
Bemerkungen: 77. Pfostenschuss Xhaka. – Abschlüsse: 23:19. – Ballbesitz (in %): 49:51. – Verwarnungen: 70. Calhanoglu. 75. Celik. 76. Söyüncü. 78. Xhaka.