Der SC Freiburg ist Tabellendritter und als einziger Bundesligist noch ungeschlagen. Aber deswegen hebt im Verein niemand ab. Am Samstag steht nun in München das Spitzenspiel mit dem deutschen Rekordmeister an.
Es ist Ende März 2013, und die Zeit drängt, eigentlich. Aber Christian Streich lässt sich nicht hetzen. Er sitzt in seinem engen Büro im Dreisamstadion, verschiebt kurzfristig einen Termin und redet dann über Themen, die über Zweikampfverhalten und Angriffsauslösung hinausgehen. Ihm ist es zum Beispiel ein Anliegen, dass sich Spieler darum bemühen, den Teamkollegen zu verstehen, ihn auch einmal zu fragen, wie es ihm geht. Er sagt: «Es ist nicht so blöd, am anderen Interesse zu haben. Wenn ich das habe, verstehe ich diese Person und auch das Spiel besser. Wir arbeiten nicht am Fliessband mit absehbaren Handlungen.»
15 Monate zuvor ist er zum Cheftrainer des SC Freiburg befördert worden, und er hat nicht lange gebraucht, um den Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Geschafft hat er das mit seiner unverstellten Art, mit seiner Hingabe an der Seitenlinie, mit erfrischenden Interviews. Pressekonferenzen, die sonst oft zu spröden Veranstaltungen verkommen, sind mit ihm nie langweilig.
Es ist Anfang November 2021, und das Gesicht des Vereins von damals ist das Gesicht des Vereins von heute: Christian Streich ist Freiburg und umgekehrt. Und der Trainer ist mit seiner Mannschaft vorzüglich unterwegs. Der Sportclub ist in dieser Saison nach zehn Spieltagen als einziges Team der Bundesliga immer noch ungeschlagen und reist nun als Dritter nach München zu Tabellenführer FC Bayern. «Schön», sagt der 56-jährige Streich, «jemand sagte: Das sei ein Spitzenspiel. Ja, das stimmt, ich kann nicht widersprechen.»
Es ist eine dieser Aussagen, die wunderbar zur Unaufgeregtheit passt, die ein Markenzeichen des SC Freiburg geworden ist, eines Klubs, der seine Stabilität und Ausstrahlung ganz vielen Konstanten zu verdanken hat. Streich ist der bekannteste Exponent, seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist er in verschiedenen Rollen dabei.
Jochen Saier ist ein anderer Pfeiler, als Sportvorstand trägt er die Verantwortung für die strategische Ausrichtung wesentlich mit. 2003 fing er beim SC als Nachwuchskoordinator an, stieg ein Jahrzehnt später zum Sportdirektor auf und 2014 zum Chef. «Die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt», meldet er aus Freiburg, «es ist viel Energie und Freude drin, wir sind mit Leidenschaft dabei.» Das heisst aber nicht, dass Saier auf einmal damit anfängt, forsche Ansagen zu machen. «Uns ist die Balance wichtig», sagt er, «der Erfolg steigt uns nicht in den Kopf, wir bleiben demütig. Und in weniger guten Zeiten verlieren wir nicht so schnell die Geduld.»
Es ist ein Rezept, von dem viele reden, das in Freiburg aber tatsächlich angewendet wird und in der oft lärmigen, nervösen Welt des Fussballs funktioniert. Für Saier ist diese gelebte Sachlichkeit auch ein Abbild der Region. «Die Menschen hier können einschätzen, was möglich ist und was nicht», sagt er, «uns hilft diese Bodenständigkeit und Bescheidenheit natürlich.»
Der Klub möchte bei aller Demut aber auch erfolgreich sein, sich dauerhaft in der Bundesliga etablieren – und das kostet. Deswegen sind die Freiburger Mitte Oktober umgezogen, vom heimeligen Dreisamstadion in ihre neue Heimat namens Europa-Park-Stadion im Stadtteil Brühl, das 76,5 Millionen Euro gekostet hat, fast 35000 Menschen Platz bietet und als willkommene neue Einnahmequelle dient. Oliver Leki, der Finanzvorstand des Klubs, sagt: «Nur mit Stadionneubau können wir sicherstellen, wettbewerbsfähig zu bleiben.» Saier fügt an: «Wir sind nicht mehr so abhängig von Transfererlösen wie bisher.»
Nostalgiker tun sich nicht leicht, das Kapitel Dreisamstadion hinter sich zu lassen, und selbst Christian Streich sagt: «Es braucht eine gewisse Zeit, um sich an das Neue zu gewöhnen.» Saier kann das sehr wohl nachvollziehen, aber er betont: «Das Gewand ist ein anderes, der inhaltliche Teil verändert sich nicht. Wir werden kein anderer Verein.» Das Stadion verfügt jetzt zwar über 20 Logen, aber weiterhin von grosser Bedeutung ist die Fanbasis: 36 Prozent der Kapazität sind Stehplätze. Dazu sind nicht nur Parkplätze für Autos geschaffen worden, sondern auch 3700 für Velos.
Die Popularität wächst kontinuierlich. Saier schätzt, dass 30000 Dauerkarten hätten abgesetzt werden können – der Verkauf wurde bei 25000 gestoppt. Inzwischen beträgt die Zahl der Mitglieder 30000, «und das ohne irgendwelche Kampagnen», sagt der Sportvorstand: «Der SC Freiburg ist zwar nicht in ein Ballungsgebiet wie den Ruhrpott eingebettet, aber doch in ein Einzugsgebiet mit hohem Zuschauerpotenzial.»
Nun also geht es an diesem Samstag nach München zum Duell mit Rekordmeister FC Bayern. «Eine besondere Momentaufnahme» nennt Saier die Ausgangslage, und er freut sich auf den Abstecher wie alle Freiburger. «Wir möchten unseren Fussball auf den Platz bekommen», sagt Saier. Und vielleicht gibt es ja Beistand von oben. Wie sagt doch Mittelfeldspieler Vincenzo Grifo? «Wir erkämpfen uns die Siege. Der liebe Gott schaut zu und belohnt uns.».