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Lucien Favre zieht sich per sofort zurück in Mönchengladbach. Der Trainer des Tabellenletzten reagiert damit auf den komplett missratenen Saisonstart mit fünf Niederlagen in Serie. Nun wird Kritik am überraschenden Rücktritt laut.
Paukenschlag am Niederrhein. Nach der fünften Niederlage in Serie in der Bundesliga hat nicht etwa Mönchengladbach die Notbremse gezogen, sondern Lucien Favre. Der Schweizer Coach reichte seine Demission ein.
Die nächste Enttäuschung im Derby in Köln (0:1) löste bei der Borussia ein Beben aus. Sie verlor am Tabellenende mehr als nur die Orientierung. Der Hauptverantwortliche des kräftigsten Aufschwungs seit den goldenen Siebzigerjahren zieht die Konsequenzen: «Es ist in dieser Situation die beste Entscheidung, mein Amt als Chef-Trainer bei Borussia Mönchengladbach niederzulegen.»
Der charismatische Chef-Stratege bat nach vier Jahren und sieben Monaten um die unverzügliche Auflösung seines bis 2017 fixierten Vertrages. Umzustimmen war er von der konsternierten Klubführung am Sonntag trotz mehreren Gesprächsrunden nicht mehr. Der 57-Jährige glaubte nicht mehr daran, die Energie für den Umschwung aufbringen zu können.
Für den 62-Jährige war der Vorgehensweise des Eidgenossen "nicht in Ordnung", wie Magath in seiner Kolumne für den Kölner Express, die tz und die Hamburger Morgenpost verkündete: "Der Weg, seinen Rücktritt ohne Rücksprache mit dem Verein zu verkünden, war falsch." Zwar habe auch ein Trainer "das Recht, die Konsequenzen zu ziehen, wenn er an eine erfolgversprechende Zusammenarbeit nicht mehr glaubt", so Magath weiter. Durch den Alleingang beim Rücktritt habe Favre jedoch "den Verein, der mit ihm durch die Krise gehen wollte", in eine schwierige Situation gebracht und die Verantwortlichen um Sportdirektor Max Eberl "brüskiert". Der ehemalige Bundestrainer Vogts wünscht sich bei seinem langjährigen Klub derweil die einstige BVB-Trainer-Ikone Jürgen Klopp als Favre-Nachfolger. "Borussia hat ein Team, das man nach oben bringen kann, es muss nur wach gerüttelt werden. Jürgen Klopp wäre der ideale Mann dafür", sagte Vogts der Rheinischen Post: "Mein Rat wäre, ihn zu holen." Allerdings will der 48-Jährige ein Sabbatjahr einlegen und lehnte zuletzt bereits lukrative Offerten ab. Favres Alleingang nach der fünften Niederlage im fünften Bundesliga-Spiel am Samstag in Köln (0:1) kann der 68-jährige Vogts nicht nachvollziehen. "Damit hat Lucien Favre das Problem nicht gelöst, sondern grösser gemacht. Das Team steht nun alleine da, und auch Sportdirektor Max Eberl", sagte Vogts und nannte die Entscheidung des Schweizers "eine Riesen-Enttäuschung". (SID)
«Ich habe nicht mehr das Gefühl, der perfekte Trainer für Borussia Mönchengladbach zu sein. Da muss ich ehrlich zu mir und meinen Partnern professionell sagen: Es geht um den Verein, um den Mythos Borussia! Ich muss diese Entscheidung für Borussia und die Zukunft treffen», erklärte Favre in einem persönlichen Statement gegenüber der Sportinformation.
Er sei lange genug im Geschäft, um zur Erkenntnis zu gelangen, «dass es jetzt an der Zeit ist und die beste Entscheidung für den Verein und die Mannschaft eine Veränderung herbeizuführen.»
Mitten in der schlimmsten Startmisere seit dem erstmaligen Aufstieg vor 50 Jahren wendet sich der mehrfache Preisträger der letzten Saison unwiderruflich ab. «Nach reiflicher Überlegung», wie Favre in seinem Schreiben betonte. Er habe alles unternommen, den Absturz zu stoppen - zum Leidwesen aller Beteiligten weitgehend glücklos. Die Meisterschafts-Output seit der Sommerpause ist niederschmetternd: kaum Chancen, null Punkte, 2:12 Tore, Zahlen eines Absteigers.
Von seinem Vorhaben liess sich der desillusionierte Romand nicht mehr abbringen. Die tiefe Verzweiflung bei jenem Mann, der im Februar 2011 gekommen ist und die nahezu regungslose Borussia aus der Versenkung wundersam zum Ligaerhalt und innerhalb von vier Saisons unter die Top 3 lotste, überwog alle übrigen Argumente.
Favre will mit seinem Rücktritt keine Lawine lostreten. Er betrachtet den in der Branche angesichts des Zeitpunkts eher ungewöhnlichen Schritt als Chance für die Führungscrew, seines Erachtens dringend nötige Massnahmen zu ergreifen. Er schaffe sozusagen frühzeitig Platz für frische Inputs, um unter neuer Leitung den Turnaround zu erzwingen.
Kein schlechtes Wort, dafür etwas Pathos, der sich für die Borussia-Chefs bitter anfühlen muss: «Ich werde die ereignisreichen Jahre bei Borussia als meine schönste und emotionalste Zeit als Trainer nie vergessen.» Womöglich wird der Klub auch seinen abrupten Abgang nie mehr vergessen.
Vor dem Absturz die Lobeshymnen
Der monumentale Zerfall Mönchengladbachs erinnert an den pechschwarzen Herbst der Dortmunder Borussia im vergangenen Championat. Die Fallhöhe ist nach dem sofortigen Rückzug des Trainers nun aber unvergleichlich grösser. Vor knapp 16 Wochen liessen sich Favre und Co. als Nummer 1 der Rückrunde feiern - notabene fünf Punkte vor dem Serienmeister Bayern München.
Am Happy End ihrer grandiosen Performance stand der erstmalige Vorstoss in die Champions League. Zur Saison der Superlativen und Bestmarken (18 Spiele ohne Niederlage) passten der Rekordumsatz von 130 Millionen Euro und die neue Mitgliederzahl von 70'000. Favre, von den Bundesliga-Profis im «Kicker» zum zweiten Mal zum Coach des Jahres gewählt, stieg im Ranking der Gladbacher Ikonen immer weiter auf.
Einzig der legendäre Meister-Coach Hennes Weisweiler und Jupp Heynckes hielten sich länger im Amt als der akribische Schweizer, der über 70 Prozent seiner 153 Bundesliga-Partien mit den Fohlen nicht verlor und bis zum desaströsen Einbruch Spektakel-Fussball erster Güte inszenierte - mit nur einem Gegentor im Schnitt.
Für die «Zeit» war er der «Fohlenflüsterer», der Weltmeister-Coach Jogi Löw adelte ihn als «Strategen mit aussergewöhnlichen Fähigkeiten». Der zweifache Champions-League-Sieger Ottmar Hitzfeld erweiterte die Lobeshymne: «Favre stellte die Glaubwürdigkeit des Klubs wieder her.» Und aus englischen Reporter-Kreisen stammt die Wortschöpfung "Borussia Barcelona".
Grenzenlose Euphorie allenthalben, bis das lange so wunderbar funktionierende System plötzlich von Blackouts lahmgelegt wurde. Am Anfang der Entzauberung stand ein 0:4 in Dortmund, zwei vermeidbare 1:2-Niederlagen gegen Mainz und in Bremen folgten. Die Verunsicherung grassierte, die Ratlosigkeit befiel immer mehr Akteure. Beim 0:3 gegen den HSV waren erste Indizien für Panikattacken erkennbar, in Sevilla (0:3) wirkte alles nur noch hilflos. In Köln (0:1) erspielte sich die vor Kurzem spektakulärste Offensive Deutschlands eine halbe Torchance.
Magische Nächte und unfreundliche Fakten
Gegen aussen hin kommentierten die Entscheidungsträger das Abdriften vorwiegend diplomatisch, hinter den Kulissen hingegen kam es gemäss gut informierten Quellen seit Wochen zu heftigen Diskussionen. Thematisiert wurden dabei nicht nur die Missverständnisse auf dem Rasen, ins Zentrum der offenbar hitzigen Debatte rückte zunehmend die Transferpolitik des Sportchefs Max Eberl.
Ziemlich rasch einmal hatte sich abgezeichnet, dass der Substanzverlust nach den früh bekannten Abgängen von Christoph Kramer (Leverkusen) und Max Kruse (Wolfsburg) zu gross sein würde. Die Engagements von Josip Drmic und Lars Stindl zahlten sich nicht wie gewünscht aus. Und dass Eberl das übrige Geld trotz diverser verletzungsbedingter Ausfälle von erfahrenen Stammspielern vorwiegend in Talente investierte, dürfte Favre angesichts des intensiven Programms nicht goutiert haben.
Am grotesken Ende werden neben unzähligen magischen Nächten im Borussia-Park deshalb überaus unfreundliche Fakten in Erinnerung bleiben. Kurzum: Favre kam als verwegener Retter, blieb als smarter Sieger und ging als ratloser Verlierer. Oder: von ganz unten nach weit oben und zurück auf Feld 18. «Oh, là, là.»
Zum zweiten Mal wird ihm eine desaströse Startphase zum Verhängnis. Bei seiner ersten Station in Berlin sackte er von Position 4 aus direkt ans Ende der deutschen Klubskala - die Entlassung war unausweichlich. In Gladbach bestimmte hingegen Favre den Zeitpunkt der Trennung.
Mögliche Nachfolger – Klopp sagt ab
Als mögliche neue Trainer bei der Borussia werden unter anderem Jos Luhukay (52), Mirko Slomka (48), Thomas Schaaf (54) und Horst Steffen (46) gehandelt. Im Heimspiel am Mittwoch (20.00 Uhr/Sky) gegen den FC Augsburg könnte Co-Trainer Frank Geideck (48), U23-Coach André Schubert (44) oder U19-Trainer Arie vant Lent (45) auf der Bank der Gladbacher als Interims-Coach Platz nehmen. Klar ist, dass Dortmunds Trainer-Ikone Jürgen Klopp für den Job im Borussia-Park nicht zur Verfügung steht. (SID/az)
Das Rücktritts-Statement vom Lucien Favre im Wortlaut:
«Nach reiflicher Überlegung und eingehender Analyse bin ich zu der Erkenntnis gekommen: Es ist in dieser Situation die beste Entscheidung, mein Amt als Cheftrainer bei Borussia Mönchengladbach niederzulegen.
Es war eine unvergessliche Zeit, die ich hier in Mönchengladbach erlebt habe. Ich durfte die Borussia vom Fast-Absteiger in die Champions League führen. Es gab viele unglaubliche berauschende Momente. Ich hatte hier ein tolles Trainerteam, eine unglaublich engagierte und professionelle Vereinsführung. Ich danke allen für ihren steten und vertrauensvollen Support! Ich bin lange genug im Geschäft, habe als Spieler und Trainer schon viele schwierige Situationen erlebt und immer wieder dazu gelernt. Da muss ich zum aktuellen Zeitpunkt ehrlich für mich sagen: Es ist jetzt an der Zeit und die beste Entscheidung für den Verein und die Mannschaft, eine Veränderung herbeizuführen.
Ich habe nicht mehr das Gefühl, der perfekte Trainer für Borussia Mönchengladbach zu sein. Da muss ich ehrlich zu mir und meinen Partnern professionell sagen: Es geht um den Verein, um den Mythos Borussia! Ich muss diese Entscheidung für Borussia und die Zukunft treffen.
Auch wenn es pathetisch klingt: Ich werde die ereignisreichen Jahre bei Borussia als meine schönste und emotionalste Zeit als Trainer nie vergessen! Die Spieler, mit denen ich arbeiten durfte! Die Vereinsführung, mit der ich immer vertrauensvoll zusammengearbeitet habe. Und da ist vor allem der Borussia-Park, da sind die Fans, die bei jedem Spiel diese unvergleichliche Stimmung erzeugen können. Ihr werdet immer in meinem Herzen bleiben!»
Die Gladbacher Ära Lucien Favre in der Chronologie
14. Februar 2011: Favre wird in Gladbach Nachfolger des einen Tag zuvor entlassenen Michael Frontzeck. Zwölf Spieltage vor Saisonende ist Borussia Tabellenletzter, sieben Punkte beträgt der Rückstand auf den Relegationsplatz.
20. Februar 2011: Im ersten Spiel unter Favre siegt Gladbach 2:1 gegen Schalke.
14. Mai 2011: Mit einem 1:1 beim Hamburger SV am letzten Spieltag vermeidet Gladbach den direkten Abstieg und rettet sich in die Relegation.
25. Mai 2011: Im Relegations-Rückspiel beim VfL Bochum bedeutet der Treffer von Marco Reus zum 1:1-Endstand den Klassenerhalt - das Hinspiel hatte Gladbach 1:0 geendet.
7. August 2011: Gladbach startet mit einem 1:0 beim FC Bayern in die erste komplette Saison unter Favre. Zwei Wochen später ist die nach einem 4:1 gegen Wolfsburg Borussia Tabellenführer.
8. Februar 2012: Mit einem 2:0 nach Verlängerung bei Favres Ex-Klub Hertha BSC erreicht Gladbach das Halbfinale im DFB-Pokal. Dort scheitern die Fohlen knapp am FC Bayern.
5. Mai 2012: Nach einem 3:0 in Mainz beendet Gladbach die Saison auf Tabellenplatz vier. Ein Jahr nach der knappen Rettung steht der Einzug ins internationale Geschäft.
29. August 2012: In der Qualifikation zur Champions League scheitert Gladbach trotz eines 2:1-Sieges im Rückspiel an Dynamo Kiew.
21. März 2013: Ein 0:2 im Rückspiel der Runde der letzten 32 gegen Lazio Rom bedeutet für Favres Team das Aus in der Europa League.
18. Mai 2013: Nach einem 3:4 gegen den FC Bayern am letzten Bundesliga-Spieltag beendet Gladbach die Saison als Achter und verpasst das internationale Geschäft.
13. März 2014: Favre verlängert seinen Vertrag bis 2017
10. Mai 2014: Trotz eines 1:3 beim VfL Wolfsburg am letzten Spieltag wird Gladbach Sechster, erreicht die Qualifikation zur Europa League.
28. August 2014: Mit einem 7:0 gegen FK Sarajevo erreicht Gladbach zum zweiten Mal unter Favre die Gruppenphase der Europa League.
6. November 2014: Das 2:0 bei Apollon Limassol ist das 18. Pflichtspiel in Serie ohne Niederlage. Favre überbietet die Bestmarke von Trainer-Idol Hennes Weisweiler.
26. Februar 2015: Wie beim ersten Mal kommt das europäische Aus in der Runde der letzten 32 - mit 0:1 und 2:3 gegen den FC Sevilla.
16. Mai 2015: Mit einem 2:0 in Bremen sichert Gladbach am vorletzten Spielplatz Tabellenplatz drei und qualifiziert sich erstmals für die Champions League.
15. September 2015: Im ersten Königsklassen-Spiel setzt es beim FC Sevilla eine 0:3-Pleite.
19. September 2015: 0:1 beim 1. FC Köln, die fünfte Niederlage im fünften Bundesliga-Spiel.
20. September 2015: Um 19.21 Uhr gibt Favre per Presseerklärung seinen Rücktritt bekannt. (SID)