Der französische Stürmerstar Kylian Mbappé ist mit 22 bereits eine Weltikone. Aber nie vergisst er seine Herkunft aus der tiefen Banlieue. Ein Ortsbesuch.
Bondy hat keinen besonders guten Ruf. Bei den schweren Vorstadtkrawallen von 2005 war die Trabantenstadt nordöstlich von Paris ein Hotspot. Heute steht der Stadtname nicht zuletzt wegen eines bekannten «Bondy-Blogs» schlicht für Banlieue. Ihrem Klischee ist hier Genüge getan: Graue Wohntürme, in deren Schatten Dealer wachen, bieten gerade mal freie Sicht auf das Brückengewirr des Autobahnkreuzes A3. Daher vielleicht der Spruch auf einer fensterlosen zehnstöckigen Fassade: «Liebe deinen Traum», steht zur Wandmalerei eines Sportartikelherstellers. Es ist der Traum vom Entkommen. Ein kleiner Junge im grünen Leibchen des Lokalvereins AS Bondy schläft auf einem Fussball als Kopfkissen. Er träumt davon, das blaue Trikot der französischen Nationalelf zu tragen. Nummer: 10. Name: Mbappé.
«Willst du ein Leibchen mit seiner Unterschrift?», fragt auf dem Trottoir eine akzentreiche Stimme. «Mein Sohn ist mit Kylian in die Schule gegangen, er könnte das arrangieren.» Wirklich? Der Herr mit Kapuze und Mundschutz versichert: «Ich weiss, das sagen hier alle. Aber die Unterschrift wäre echt.» Kleiner Ablenkungsversuch: Was hält der Anwohner von Mbappé? «Kyky ist einer von uns, und einer, der es geschafft hat», sagt der Mann, von dem nur das Weisse zweier dunkler Kulleraugen zu sehen ist. «Ich sage immer: Wenn du es zu etwas bringen willst, dann musst du fort von hier. Wie Kylian. Er ist schon auf und davon, als er noch ein Teenager war. Aber sein Leibchen, willst du das?»
Stimmt, Mbappé war ein Frühzünder. Beim AS Bondy spielte er nur bis 15. Noch nicht 14, hatte ihn Real-Trainer Zinedine Zidane einmal nach Spanien eingeladen. Am Flughafen von Madrid angekommen, forderte ihn der französische Ex-Weltmeister auf, sich im Auto auf den Nebensitz zu setzen. Bevor kleiner Kylian in den blitzenden Sportwagen stieg, fragte er verschüchtert: «Soll ich die Schuhe ausziehen?»
Seine Eltern wollten aber nicht, dass ihr Filius nach Spanien zog. Vater Wilfried, Fussballtrainer aus Kamerun, und seine Mutter Fayza, eine Spitzenhandballerin mit algerischen Wurzeln, verlangten, dass Kylian die Schule in Bondy beende. Der mühelose Musterschüler tat dies auf seine Art: Er legte die Matura mit 17 ab. Da war er bereits einmal in der ersten französischen Liga für AS Monaco angetreten.
Mit 18 kam er bei Paris Saint-Germain unter Vertrag. Mit seinem heutigen Klub wurde er Torschützenkönig und Fussballer des Jahres, mit den «Bleus» Weltmeister. Ihre Nummer 10 ist in Frankreich längst Nummer eins, im übertragenen Sinn. Um den Weltstar Mbappé reissen sich die besten europäischen Klubs, obwohl er heute mit 160 Millionen Euro der teuerste Fussballer überhaupt ist.
Aber keine Sorge: «Kylian wahrt einen kühlen Kopf.» Das sagt nicht Zidane. Das sagt eine Frau, die es wissen muss: Céline Bognini war die frühere Musiklehrerin des Fussballers in Bondy. Bei ihr lernte Kylian vor einem halben Leben Querflöte. «Er spielte hervorragend. Im Chor schaute er als Einziger genau hin, wenn ich vorsang, damit er schneller lernte.» Dann lässt die Italienerin eine Serie von Adjektiven zu Mbappés Charakter vom Stapel: Er sei aufgeweckt, hochintelligent, neugierig, agil, authentisch. Und respektvoll, aufrichtig, fleissig, gelassen. Und Humor habe er auch.
Vieles davon verdanke er seinen Eltern, sagt Bognini. Sie hätten ihre drei Söhne nie aus den Augen gelassen, sondern mit starken Wurzeln und Werten erzogen. Dann sagt die Musiklehrerin selber einen starken Satz: «Wenn Mbappé heute weiss, was er will, dann auch deshalb, weil er weiss, wo er herkommt.»
Wo er herkommt: Das hat der nonchalante Jungstar im letzten Jahr in einem Beitrag für «The Players‘ Tribune» klargemacht, gewidmet «den Kindern von Bondy, den Kindern der Pariser Agglo, den Kindern der Vorstädte». Er schreibt: «Die Leute von ausserhalb sprechen schlecht über die Banlieue. Aber wenn man nicht von dort stammt, kann man nicht verstehen, was das Wort bedeutet.» Kriminalität gebe es überall, Elend auch. «Tatsache ist aber, dass ich als kleiner Junge selber erlebt habe, wie die härtesten Jungs die Einkaufstaschen meiner Grossmutter nach Hause trugen.»
Uns Auswärtigen erzählt er, was zu tun sei, wenn einem auf dem Trottoir eine Gruppe von 15 Jungs entgegenkommt. Reissaus nehmen? Nein, man grüsst alle. Betonung auf alle. Auch wenn man nur einen kenne, tausche man mit allen 15 einen Fistbump, einen Faust-zu-Faust-Gruss, schreibt Mbappé. «Wenn du nur den grüsst, den du kennst, werden dich die 14 anderen nie vergessen. Sie wissen, was für ein Mensch du bist.» Unnötig zu sagen: ein schlechter Mensch.
So funktioniere die Banlieue. Im Vorstadtdepartement Seine-Saint-Denis mit der Verwaltungsnummer 93 gehe es um zweierlei: Solidarität und Ehre. «Wir spielten um einen Plastikpokal für zwei Euro, als gehe es um Leben oder Tod», erinnert er sich. Das und die harten Lektionen des Banlieue-Lebens hätten ihn mehr gelehrt als die teuerste Fussball-Akademie, schrieb der Stürmerstar, der seinen Beitrag mit «Kylian aus Bondy» unterzeichnete.
Ja, in Bondy ist das Leben anders. Die Metzgereien sind «halal» angeschrieben, die Läden «exotisch». Es gibt auch ein paar Zonen mit ehemaligen Arbeiterhäuschen, wo die «Franzosen» leben. So nennen die Bewohner der verfallenden Wohntürme die Weissen.
Einer der Weissen, Bürgermeister Stephen Hervé (44), räumt in seinem hässlich betonierten Rathaus ein, dass er die Familie Mbappé erst einmal persönlich getroffen habe. Man lebt hier getrennt. Nicht unbedingt ethnisch, aber wohlstandsmässig. Wenn man den Vorsteher von 54 000 Einwohnern zum «Prinz von Bondy» befragt, hat er nur ein paar Gemeinplätze parat. Mbappé, aus einer intakten Familie und einem ehrgeizigen Sportverein stammend, sei ein Modell für die Jugend der Gemeinde. Aber nicht das einzige! Bondy habe schon andere Fussballcracks wie Jonathan Ikoné oder William Saliba hervorgebracht, betont Hervé.
Mbappé hält Distanz zur Politik. Nach dem Tod von George Floyd in den USA twitterte er – und das wie immer selber, ohne die Hilfe eines PR-Agenten – die amerikanische Parole weiter: «Die Polizei mit uns, nicht gegen uns.» Wenn der Weltstar gelegentlich nach Bondy kommt, dann trifft er keine lokalen Würdenträger. Als er in Bondy 2018 den Weltmeistertitel der «Bleus» feierte, kamen Tausende vorwiegend junge Einwohner ins Stade Leo-Lagrange, wo Mbappé seine ersten Tore geschossen hatte. Dass er 25 Schüler der Schule Jean-Renoir an zwei WM-Spiele eingeladen hatte, sagte bei der Feier niemand, auch wenn es in Bondy jeder weiss.
Heute wirkt das Stadion Leo-Lagrange eher ungepflegt. Auf dem zweiten Feld mit dem Kunstrasen trudeln nach Feierabend U16-Burschen zum Fussballtraining ein. Man grüsst sich per Faust-zu-Faust, wortlos, aber keiner wird vergessen, auch der unbekannte Besucher nicht. Alle sind hier gleich, eine Hautfarbe hat niemand.
Eine persönliche Meinung schon. «Ich mag seinen Stil nicht besonders», sagt einer der Youngsters zum Stichwort Mbappé. Surprise: Die andere stimmen alle zu, wenn man nachhakt. Die Gründe müssen sie allerdings zusammensuchen wie eine Ausrede: «Er tanzt zu sehr.» Oder: «Er behält den Ball zu lange.»
Kleine Wichtigtuer? Ein junger Maghrebiner mischt sich ein: «Weisst du, der Beste von allen ist gar nicht Kylian. Der Beste ist Verratti.» Den Namen des italienischen Mittelfeldspielers von Paris Saint-Germain spricht er wie «Verratschi» aus. Banlieue-Akzent. Die anderen nicken: Der Beste ist Verratschi.
Vielleicht sind diese Jungs auch bloss gegen die mediale Überhöhung ihres Ex-Kumpels Mbappé zum Fussballgott. Denn der PSG-Stürmer ist für sie natürlich der Grösste. Der Erfolgreichste, einer, der seinen Traum realisiert hat, der einen Ferrari fährt. Verratti nur einen Bentley. Aber zugleich ist Mbappé auch einer der ihren. Einer, der alle grüsst.
Auch der einzige Jugendliche, der ohne Sportkleidung zum Training kommt, gibt sich unbeeindruckt von Mbappé, obwohl er gerne wäre wie er. Millésime, wie der 16-Jährige mit dem blumigen Vornamen heisst, kommt sich von seinen Kumpels zu verabschieden: Der Verein Paris FC hat ihn angeheuert. Das ist noch nicht der Pariser Spitzenklub PSG, aber es ist ein Anfang für eine Profikarriere.
Millésime sieht seine Zukunft eher in England. Das sagt er ganz nüchtern. Der junge Franko-Kongolese wirkt nicht wie der Träumer von der Wandmalerei. Aber jetzt geht er, da das Training beginnt. Ohne Aufwärmen, ohne lange Theorie. Die Unter-16-Jährigen spielen wie die Grossen, schiessen satt wie Zwanzigjährige. Trainer Tonio Riccardi lässt sie spielen. «Benützt den Raum!», schreit er ab und zu, mehr braucht es nicht. «Es ist verrückt, wie diese Jungs den Ball beherrschen», staunt er selbst. «Die können schon alles.»
Tonio, wie ihn hier alle nennen, hat in Bondy zahllose Jungs geformt, aber er spielt sich nicht als «Mbappés erster Trainer» auf. «Am wichtigsten für ihn waren seine Eltern», sagt er. «Sie beraten ihn noch heute, auch wenn sein Vater kaum öffentlich auftritt und die Medien meidet. Aber er war es, der Kylian das Rüstzeug mitgegeben hat, auf dem Fussballfeld wie auf dem harten Pflaster von Bondy.» Gewiss – aber Mbappé hat auch etwas, das man von keinem lernt. «Ich mag mich erinnern, Kylian entschied ganze Partien im Alleingang», sagt auch Riccardi: «Manchmal war es, als hätte er beschlossen, das Spiel zu gewinnen. Und dann gewann seine Mannschaft auch.»