Vor dem EM-Final gegen Italien vom Sonntag schwelgt England in Fussball-Euphorie. Auch die Zeitungen überschlagen sich förmlich.
«O, O, O». Das Wembley-Stadion tanzte, die englischen Spieler grölten mit den Fans um die Wette. Die nicht immer lupenrein melodisch, aber aus tiefster Seele kommende Interpretation von Neil Diamonds Evergreen «Sweet Caroline» erfreute die Zuschauer noch lang nach Abpfiff des Halbfinals gegen Dänemark. «Gute Zeiten haben sich nie so gut angefühlt» – die Textzeile sprach Millionen von Engländern aus dem Herzen, nachdem ihre Mannschaft zum ersten Mal seit 55 Jahren den Final eines grossen Fussballturniers erreicht hatte.
Tags darauf überschlugen sich die Zeitungen vor Begeisterung. Der «Telegraph» feierte die «History Boys». Die Boulevardblätter «Mirror» und «Express», politisch diametral entgegengesetzt, reduzierten das Gefühl der fussballnärrischen Nation in trauter Eintracht auf ein Wort: «Final-ly» – endlich.
Ob im eigenen Land wie an der WM 1966 der Titelgewinn gelingt? «Football’s coming home», sangen die Fans vor einem Vierteljahrhundert, als die EM im Mutterland des Fussballs gastierte. Alle hochfliegenden Träume endeten jäh in jener Juni-Nacht 1996, als im Halbfinal der deutsche Torhüter Andreas Köpke den letzten englischen Elfmeter hielt. Der unglückliche Schütze hiess Gareth Southgate. Er leitet diesmal als Trainer Englands Equipe.
Die Anbetung des 50-Jährigen kennt schon vor dem erhofften Finalsieg kaum Grenzen. Immer wieder ist von seiner «emotionalen Intelligenz» die Rede. Übersetzt bedeutet das: Southgate leidet weder an der sehr englischen Arroganz noch an Minderwertigkeitsgefühlen. «Milde, geduldig, ernsthaft», so kennzeichnete ein «Times»-Porträt den Fussballlehrer und dichtete ihm augenzwinkernd beinahe übermenschliche Fähigkeiten an: Der Herr im gut geschnittenen Anzug gleiche «einem zugeknöpften Sekundarschullehrer, der eine richtig kluge und fesselnde Stunde Sexualkundeunterricht erteilt».
Southgate gilt vielen Kommentatoren als vorbildlich – und das in einem Land, das nicht erst seit der Coronapandemie mit seinen Eliten hadert. Der frühere Nationalmannschaftscaptain Gary Neville brachte es im TV-Sender ITV auf den Punkt. Der Standard der Führungskräfte im Land in den vergangenen zwei Jahren sei ja ziemlich schlimm gewesen. «Aber Gareth Southgate ist ein hervorragender Leader.»
Der Euphorie im Wembley tat nicht einmal Abbruch, dass der mit dieser indirekten Schelte bedachte Premierminister in viel zu engem England-Jersey mit dunkler Anzugjacke erschien. Das gutmütige Publikum ignorierte einfach Boris Johnsons verzweifelte Versuche, sich als Fussballfan zu gerieren. Ohnehin wissen alle, dass sich der typische Oberschicht-Engländer mehr für Rugby und Cricket interessiert als für den auf der Insel einst als Proletensport geltenden Fussball.
Für manche TV-Zuseher mischte sich angesichts des verkleideten Regierungschefs ein bitterer Beigeschmack in die Begeisterung. «Natürlich will ich England siegen sehen», so der altgediente Fussballfan John Biggins, Autor des amüsanten Buches «Skimpton Compendium». «Aber gleichzeitig denke ich: Das reklamiert dann Johnson für sich, und auf der Strasse grölen die Deppen ‹Rule Britannia› und reden vom Brexit.»
Tatsächlich hat der EU-Austritt das Königreich politisch mittendurch gespalten. Ob Southgate und seine Spieler das Unmögliche schaffen? Immerhin vereinigen sich hinter dem roten Georgskreuz auf weissem Grund, der Fahne Englands, längst nicht mehr ausschliesslich patriotische Konservative.
Das multiethnische Team mit politisch engagierten Spielern wie Marcus Rashford von Manchester United und Raheem Sterling von Manchester City hat auch viele Linke beeindruckt, analysiert die Labour-nahe Politikberaterin Scarlett MccGwire. «Die stehen gegen Intoleranz, auf die können wir stolz sein», so die junge Muslima Shaista Aziz. Dass Southgate und seine Spieler in Solidarität mit der Anti-Rassismuskampagne vor jeder Partie das Knie beugen, hat in den vergangenen Monaten immer wieder zu heftigen Debatten geführt.
Inzwischen kann sich sogar die stramm rechte Innenministerin Priti Patel dem Charme des erfolgreichen Teams nicht entziehen. Da geht es ihr wie vor Jahresfrist Johnson im Duell mit Marcus Rashford. Mitten in der Pandemie zwang der Sohn einer alleinerziehenden Mutter mit fünf Kindern die Regierung zu höheren Sozialhilfezahlungen an die Ärmsten des Landes.
Dass Auswechselspieler wie Rashford oder Flügelflitzer Jack Grealish mit den Stammleuten um Captain Harry Kane eine Einheit bilden, hat in England zum Gefühl von Begeisterung und Einigkeit beigetragen. Am Sonntag wird unter der Anleitung von «Sweet Gareth» wieder gefeiert. «O, O, O».