Eishockey-WM
Der Titel ist so nah – und doch so fern

Seit NHL-Spieler erlaubt sind, fehlten nie so viele Stars an einer Eishockey-WM wie jetzt. Das Schweizer Nationalteam hat wenige Abwesende und ist damit ein Titelfavorit. Aber ist es so einfach? Warum Namen nur aufgenähte Buchstaben sind. Eine Analyse.

Klaus Zaugg
Klaus Zaugg
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Eine WM in der Blase: Tristan Scherwey und Romain Loeffel fahren mit dem Bus ins Training.)

Eine WM in der Blase: Tristan Scherwey und Romain Loeffel fahren mit dem Bus ins Training.)

Claudio Thoma/
Freshfocus

Darauf haben wir mehr als 100 Jahre lang gewartet: Zum ersten Mal gehört die Schweiz bei einer WM zu den Titel­anwärtern. Das war vor dem Turnier weder 2013 noch 2018 so, als die Schweizer bis in den Final stürmten und beide Male gegen Schweden verloren.

Sind die Vorschusslorbeeren unseren Anstrengungen und Fortschritten geschuldet, oder profitieren wir von einer einmaligen Ausgangslage? Beides.

Die Ausgangslage ist einmalig günstig. Noch nie, seit NHL-Profis zur WM zugelassen sind (1977), fehlen bei einem WM-Turnier so viele grosse Namen. Am wenigsten Absenzen haben Deutschland und die Schweiz zu verzeichnen.

Bei den Schweden fehlen 30 der besten Spieler

Wenn wir einfach die WM-Aufgebote durchgehen und nachsehen, wer alles fehlt – dann kommen wir zum Schluss: Deutschland und die Schweiz gehören zu den Titelanwärtern. Der verspätete NHL-Saisonstart, die Mühseligkeit bei Nach­nominierungen (wer nach­gemeldet wird, kann erst am 7. Tag nach der Ankunft in Riga spielen) und die besonderen Umstände (Leben in der WM-Blase) haben dazu geführt, dass so viele Stars nicht zur WM fahren können oder wollen. Bei den Schweden fehlen mehr als 30 der besten Spieler.

Auf dem Papier ist die Schweiz vor dem Turnier also so nahe am WM-Titel wie noch nie. Wohlgemerkt: vor dem Turnier. Nun wissen wir, dass dieses Spiel auf spiegelglattem Eis ausgetragen wird und ein unberechenbares ist. Daher müssen wir der Frage nach­gehen, ob die Mannschaft von Patrick Fischer dazu in der Lage ist, den himmelhohen Er­wartungen gerecht zu werden? Die Antwort lautet: Ja, aber.

Patrick Fischer: Vom Zauberlehrling zum Hexenmeister

Ja, weil gerade bei einem Turnier unter so schwierigen Bedingungen die «weichen» Faktoren wichtig sind: Wenn es ein Coach versteht, seine Spieler mit auf eine Mission zu nehmen und sich ein «Groove» eines aufregenden Abenteuers entwickelt und Emotionen und Leidenschaft entfacht werden– dann kann eine Mannschaft weit über sich hinauswachsen.

Patrick Fischer versteht es mindestens so gut wie einst der grosse Ralph Krueger, diesen «Groove» zu wecken. Er hat bereits bei der Silber-WM 2018 gezeigt, dass er vom Zauberlehrling zum Hexenmeister gereift ist. Es ist eine WM wie gemacht für Patrick Fischer.

Die spielerischen Mittel sind vorhanden: So wie unsere Meisterschaft wird auch eine WM von Lauf- und Tempo­hockey geprägt. Taktik, Dynamik und Tempo sind wichtiger als Wucht, Kraft und Wasserverdrängung. Auch so gesehen: wie gemacht für die Schweizer.

Nur einer Torhüter in Heldenverfassung

Es gibt aus dieser Sicht nur zwei Einschränkungen: Anders als 2013 und 2018 beim Sturm in den Final muss Fischer diesmal voraussichtlich ohne Roman Josi auskommen. Kein anderer Schweizer Feldspieler hat so viel Einfluss auf das Spiel wie der Captain der Nashville Predators.

Und auch anders als 2013 (Martin Gerber und Reto Berra) und 2018 (Leonardo ­Genoni und Reto Berra) haben die Schweizer in Riga nur einen Torhüter von Weltformat, der in Form ist (Leonard Genoni). Er muss ein WM-Held werden. Reto Berra und Melvin Nyffeler sind nicht in Heldenverfassung.

Wir sehen also: Es gibt gute Gründe, dass wir dem WM- Titel vor dem Turnier so nahe sind wie nie. Aber eben auch ein «aber», einen Grund, warum er trotzdem so fern ist: Namen sind nur auf dem Dress aufgenähte Buchstaben.

Die Kanadier haben beispielsweise mehr als zehn Spieler im Team, die in der NHL bloss den vorgeschriebenen Mindestlohn verdienen. Sie sind nominell ein Operettenteam, das die Schweizer – so sie denn in der K.-o.-Phase auf diesen Gegner treffen sollten – vom Eis fegen werden. Oder?

Aber so einfach ist es nicht. Für alle mit vermeintlich «kleinen» Namen oder wenig Erfahrung ist diese WM eine einmalige Chance auf der globalen TV-Bühne. Die vermeintlich «Kleinen» werden mit mehr Leidenschaft und Hingabe spielen als die Stars, die in Riga fehlen. Das bedeutet: Ein «namenloses» Schweden oder Kanada kann der schwierigere Gegner sein als ein Schweden oder Kanada mit allen Stars.

Mit einem perfekten Turnier können die Schweizer Weltmeister werden. Aber bei der vielleicht ausgeglichensten WM des Jahrhunderts ist eine bittere Enttäuschung nicht ausgeschlossen. Deshalb sind wir dem WM-Titel so nah – und doch so fern.