Seit 2017 steht Marc Schneider beim FC Thun an der Seitenlinie, jetzt hat er sein Team in den Cupfinal geführt. Geerdet, bodenständig, normal, diese Worte beschreiben den 38-Jährigen. Deshalb ist in Thun etwas nicht erlaubt, was sonst oft den Alltag bestimmt.
Andres Gerber blickt von der «Herzbluet Lounge» auf den Kunstrasen der Stockhorn Arena runter. «Wahnsinn! Jede Flanke kommt fast punktgenau.» Es ist kein brasilianischer Ballkünstler, den der Sportchef des FC Thun bestaunt. Es ist Marc Schneider, 38, aus Uetendorf bei Thun.
«Risiko, Experiment» lautete der Tenor, als Schneider vor zwei Jahren vom Assistenten zum Cheftrainer befördert wurde. Jetzt steht der Vater von zwei schulpflichtigen Kindern mit dem FC Thun im Cupfinal. Für die Berner Oberländer ist es das erst zweite Mal überhaupt nach 1955.
Gerber sagt, die Lösung mit Schneider hätte sich aufgedrängt. «Er kommt von hier. Kennt alles und jeden. Er ist ein vernünftiger, smarter, intelligenter Typ. Er hat Humor und ist kein bequemer Hagel. Er schlägt nirgends den Grind an, ist korrekt und pflichtbewusst. Einfach ein richtig guter Trainer.»
Schneider kann den Spielern noch etwas vormachen, ohne zu blenden. «Viele unserer Spieler wissen gar nichts über meine Karriere, weil ich kaum darüber spreche. Es würde sie auch nicht interessieren», sagt Schneider. «Und wenn es die Spieler irgendwie doch mitkriegen, reagieren sie erstaunt und fragen: ‹Was, du bist zweimal Meister geworden?› Ja, und jetzt?»
Dabei ist es noch gar nicht lange her. 2006 stemmt er als Captain des FC Zürich den Meisterpokal. 2007 gewinnt er gar das Double. «Es ist halt alles viel schnelllebiger geworden mit den sozialen Medien wie Instagram. Alles passiert nur noch im Hier und Jetzt», sagt Schneider. Und weil er in dieser Hinsicht anders tickt, keinen Nutzen für sich darin erkennt, verzichtet er ganz auf Social Media. «Ausserdem kann das Smartphone zu einer Sucht werden. Das sehe ich auch bei meinen Spielern.»
Es kam vor, dass Schneider die Kabine betrat und 15 Spieler registrierte, die in ihr Smartphone starrten. Das kann es nicht sein, dachte er sich. Und so stellte die Regel auf: In der Arena ist das Smartphone tabu. Das Gerät bleibt im Auto. «Wenn die Spieler die Arena betreten, sind sie ausschliesslich Fussballer.
So ist wenigstens gewährleistet, dass fünf, sechs Stunden pro Tag das Smartphone nicht omnipräsent ist. Ich will nicht, dass dieses Gerät im Alltag eine alles dominierende Stellung einnimmt. Ich will, dass die Spieler miteinander kommunizieren, sich mit ihrem tollen Job auseinandersetzen. Das geht nicht, wenn jeder ausschliesslich in sein Smartphone vertieft ist.» Opposition gegen diese Regel gab es nicht.
Heile Welt? Ein bisschen, vielleicht. Aber die heile Welt ist selbst in Thun nicht vom Himmel gefallen. Auch wenn andernorts viele denken, dass der FC Thun ein Biotop der Unschuld sei, weil der Trainer nicht nach jeder Niederlage infrage gestellt wird, weil das Publikum keine Titel fordert, weil die Medien den FC Thun selten im Fokus haben, weil die Spieler noch keine abgehobenen Schnösel sind. Denen sei gesagt: Mehrmals nach dem Champions-League-Abenteuer (2005) kurz vor dem Konkurs, dazu Sex- und Wettskandal. Nein. Allein die Idylle des Berner Oberlands schreckt die bösen Geister beim FC Thun nicht ab.
Seine ersten drei Spiele als Trainer in der Super League verlor Schneider. Nervös wurde deswegen keiner. Kein Investor, kein Vorstand, kein Fan, kein Spieler. Selbst Schneider blieb unaufgeregt. «Der kann gut reden», hört man von Konkurrenten, «das ist typisch Thun». Mit seinen blauen Augen fixiert er den Gesprächspartner und sagt: «Das ist nicht ganz falsch. Aber Gegenfrage: Warum kann es andernorts nicht ähnlich funktionieren? Es heisst immer: Kleiner FC Thun, kein Druck. Dabei haben wir den grössten Druck von allen. Sollten wir absteigen, können wir nicht wie der FC Zürich schnell eine Schleife in der Challenge League drehen. Ein Abstieg wäre für uns existenzbedrohend. Das heisst: Wir haben das kleinste Budget, müssen aber in der Liga bleiben. Wenn das kein Druck ist. Dass wir uns zuletzt im Mittelfeld etablieren konnten, kommt nicht von ungefähr. Eine Organisation, wie wir sie in Thun haben, kann man auch anderswo kreieren. Wir haben einen Präsidenten, der wenig Ahnung von Fussball hat. Das sagt er selbst. Aber er macht alles andere und lässt die fussballkompetenten Leute wie Sportchef Gerber und mich in unseren Bereichen arbeiten. Das ist Gold wert. Klubpräsidenten sollten ihren Job nicht ausüben, um sich selber ins Scheinwerferlicht zu stellen.»
Geerdet, bodenständig, normal. Was ihn in der Scheinwelt Fussball bisweilen zu einem Aussenseiter macht, fasst Schneider selbst als Kompliment auf. Er will normal sein. Und deshalb zweifeln viele, ob Schneider als Trainer in einem Klub, in dem es nicht so normal läuft, funktionieren kann. «Warum nicht?», fragt er. «Natürlich: Zürich beispielsweise gilt als hip und schön und trendy und abgehoben. Aber das ist doch klischiertes Denken. Warum soll man in Zürich oder in einer anderen Metropole nicht bodenständig sein können?»
Schneider hat Zürich erlebt. 22 war er, als er mit seinem gebrauchten Seat Ibiza im Letzigrund vorfuhr. Nebenan standen Nobelkarossen von Audi und BMW. Und in der Kabine redeten die Spieler über Gucci, Prada, Louis Vuitton. Neue Welt. Schneider denkt sich: Wo bin ich hier nur gelandet?
Schneider ist bei weitem nicht der erste Fussballer, der mit dem Wechsel von der Provinz in die Grossstadt einen Kulturschock erlebt. Etliche kleiden sich bald darauf in einer Edelboutique neu ein und schaffen sich ein teures Auto an. Die Versuchung, im Strom mitzuschwimmen, nahm Schneider damals nicht als solche wahr.
Er blieb, wie er aus dem Berner Oberland gekommen war. «Was nicht bedeutet, dass ich wie ein Landei herumlief. Oder die anderen, die dem neuesten Schrei hinterherrannten, für ihr Konsumverhalten verurteilte.»
Schneider wird in Zürich bald hochgeschätzt. Steigt unter Lucien Favre zum Captain auf. Bleibt aber zumindest in der Aussenwahrnehmung eher im Hintergrund. «Intern war ich viel aktiver als extern. Für das Rampenlicht hatten wir andere Spieler, das habe ich sehr geschätzt.» Sandra, seine Frau, mit der er als Teenager und Maschinenzeichner-Lehrling zusammengekommen ist, hat erst Mühe in der grossen Stadt. Als die beiden nach fünf Jahren weiterziehen, fehlt ihr Zürich schon bald.
Über St. Gallen und YB kehrt Schneider zum FC Thun zurück, wo er 2012 seine Spielerkarriere beendet. Mittlerweile hat er zwei schulpflichtige Kinder. Nur: Wie lässt sich das Wohlbefinden der Familie im Berner Oberland mit seinen Ambitionen vereinbaren? «Es heisst nicht, dass wir uns nicht verändern können. Für uns ist es kein Problem, wenn es morgen heisst, Koffer packen. Natürlich schätze ich das alles hier. Aber das bedeutet nicht, dass ich deswegen nie an einen anderen Ort gehen würde. Ich könnte mit meiner Familie auch in St. Gallen oder in Luzern oder irgendwo anders leben. Fussball bedingt eine gewisse Flexibilität. Wir haben das zwar nicht bis zur letzten Konsequenz durchgedacht. Aber sicher ist, dass ich nie alleine, ohne Frau und Kinder, irgendwo hingehen würde. Dafür bin ich zu sehr Familienmensch. Für viele Leute in unserem Umfeld ist unsere Art zu leben mit zu hohen Risiken verbunden. Ich entgegne: Für die Kinder würde es auch an einem neuen Ort weitergehen. Sie würden auch dort Freunde finden. Das ist nicht egoistisch.»
Aber untypisch schweizerisch für einen, der sich als typischen Schweizer bezeichnet. «Ja, das ist die Seite an uns, die nicht der typisch schweizerischen Familie entspricht, sorry.» Kein Problem.