Vancouver
Eine Nacht Olympia schauen - eine Grenzerfahrung

Zehn Sportarten in zwölf Stunden: Reporter Benno Tuchschmid hat eine Nacht lang Olympia geschaut und stiess an mentale und körperliche Grenzen. Pleiten bei SF, Pannen im Eisschnelllauf und Podladtchikov um vier Uhr – Unterhaltung kann schmerzen.

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Achtung Reizüberflutung

Achtung Reizüberflutung

Aargauer Zeitung

Update

Wer nicht zu den 1,8 Millionen Zuschauern gehört, die in Vancouver live die Olympischen Spiele mitverfolgen können, wird von rund 10 000 akkreditierten Medienschaffenden mit Infos und Emotionen beliefert. Sie sorgen für die Aufnahmen und Kommentare, die durch die Fernsehgeräte zu gut drei Milliarden Zuschauern weltweit gelangen, sie schreiben die Berichte, die wir in den Zeitungen und im Internet lesen, und senden die Radiobeiträge, die uns über das zweitgrösste Sportereignis des Jahres auf dem Laufenden halten. Laut den Angaben von Swiss Olympic sind 60 Journalistinnen und Journalisten, 14 Fotografen und 2 Techniker für die Web- und Printmedien aus der Schweiz nach Kanada gereist. Hinzu kommen 6 private Radio- und TVStationen sowie 226 Angestellte der SRG SSR idée suisse, welche Radio- und Fernsehbeiträge für alle drei Sprachregionen produzieren - für sämtliche alpinen Skidisziplinen war die SRG sogar für das Weltsignal verantwortlich. (COV)

18.53 Uhr Ich starte in den Ernstkampf. Auf dem Eis stehen schreiende, mit Besen bewaffnete Frauen. «Zieeeeeh» - schreit Mirjam Ott, Skip der Schweizer Curling-Frauen. Kommentator Beni Thurnheer versteht das Spiel nur leicht besser als der Durchschnittszuschauer.

20.03 Uhr Der Puls steigt. Die Abfahrt beginnt. Ein Höhepunkt der noch jungen Nacht. Doch: Die erste Schweizerin findet ihre Linie nicht, die zweite stürzt fürchterlich, die dritte fährt schlecht und die vierte wird bloss Fünfte. Der erste vermeintliche Höhepunkt wird zum ernüchternden Rückschlag. Neben Dominique Gisin stürzt auch Anja Pärson schwer. Schreckliche Bilder. Nach dem Rennen tröstet mich die weinende Siegerin Lindsey Vonn über die schwachen Schweizerinnen hinweg. So sieht eine Frau aus, von der 308 Millionen Amerikaner Gold forderten - und die es schaffte, den Massen zu geben, was sie wollten.

21.30 Uhr Nach dem ersten Höhepunkt geht es jetzt darum, meinen eigenen Rhythmus zu finden. Ich weiss: Das zweite Highlight folgt erst am Schluss meines TV-Marathons. Mental äusserst schwierig. Ich mache eine Verpflegungspause, Dehydration und Hungerattacken sind die Feinde jedes TV-Ausdauersportlers.

22.05 Uhr SF versucht seine Zuschauer für den Halfpipe-Final heisszumachen. Verkrampft bemühen sich Gian Simmen, Dani Kern und Steffi Buchli, den Coolness-Faktor des SF nach oben zu schrauben. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Englische Expertenausdrücke allein reichen nicht, um aus der öffentlich- rechtlichen Tante einen trendigen Szeni zu machen. Curling passt besser zu SF. Ich öffne das erste Bier.

22.30 Uhr Auf ARD folgt der Langlauf- Sprint der Frauen. Die Slowenin Petra Majdic holt Bronze, obwohl sie sich beim Aufwärmen eine Rippenprellung zugezogen hatte und nach den Halbfinals vor Schmerzen schreiend im Schnee gelegen war. Ein Olympia- Märchen.

00.00 Uhr «Um halb drei folgt dann die Qualifikation von Iouri Podladtchikov», sagt Moderatorin Steffi Buchli. Ich schalte auf Eurosport um. Es dauert zwei Minuten - und Podladtchikov fährt live die Qualifikation. Derweil läuft auf SF wieder Curling. Ich beschliesse, das Schweizer Fernsehen für längere Zeit zu meiden. Die Nacht ist schon so lang genug. Nichts gegen Curling, aber in der Halfpipe geht es um eine Medaille. Podladtchikov qualifiziert sich für den Final.

01.30 Uhr Ich muss wieder eine positive Einstellung finden, trotz SF. Abhilfe verschafft ein Eisschnelllauf-Skandal. Wegen einer defekten Startpistole kommt es zu grossen Verzögerungen. Die Eurosport- Kommentatoren lehren mich, dass es um jede Minute geht, je wärmer das Eis, desto langsamer die Bahn. Als der Wettkampf nach knapp 10 Minuten noch immer nicht fortgesetzt wird, setzt ein gellendes Pfeifkonzert ein. Auf der Tribüne sitzt IOC-Präsident Jacques Rogge und guckt betreten aus der Wäsche.

02.00 Uhr Eishockey. Schweden - Deutschland. Deutschland verliert. Gegen die Schweiz würde Deutschland mit dieser Leistung klar gewinnen. Ich öffne das zweite Bier.

02.06 Uhr ARD bringt jetzt aufeinanderliegende Männer in engen Kunststoff-Anzügen, die auf einem Schlitten einen Eiskanal herunterfahren: Doppel-Rodeln.

02.49 Uhr Die Augen werden schwerer, das Hirn matschig. Im Eurosport fahren vier Männer auf Schlittschuhen zeitgleich im Kreis herum und stossen nach einer Runde Kollegen an, die aus der inneren Bahn in die äussere wechseln. Als «organisiertes Chaos» bezeichnet der Kommentator die Short-Trak- Staffelrennen. Zu Recht.

04.00 Uhr Unorganisiertes Chaos dagegen beim SF. Die Live-Übertragung des Halfpipe-Finals startet. Mitten im Satz beginnt Steffi Buchli hysterisch zu lachen und gluckst: «Es isch aso grad e chli es Durenand bi eus.» Auch ich drehe langsam durch.

04.42 Uhr Olivia Nobs bekommt ihre bronzene Medaille umgehängt. Meine Augen brennen.

05.15 Uhr Dass Podladtchikov keine Medaille holt, sehe ich noch knapp. Richtig ärgern mag ich mich nicht mehr. Der kritische Punkt ist überschritten. Und jetzt kommt nur noch Curling.

06.00 Uhr Sie curlen immer noch - doch für mich sind die Spiele vorbei.