Offensive Zeitenwende: Erstmals haben wir an einer Weltmeisterschaft mit Niederreiter und Andrighetto zwei NHL-Stürmer – zusammen mit Moser und Martschini sind sie die Schweizer Hoffnungsträger.
Hnat Domenichelli kennt alle Facetten des Spiels. Der in der Schweiz eingebürgerte Kanadier arbeitet heute als TV-Kommentator und Spieleragent. Er stürmte während seiner Karriere für Kanada (U20-WM), in der NHL, in der NLA und 2010 am olympischen Turnier in Vancouver für die Schweiz. Nun ist dem 40-Jährigen in Moskau ein Licht aufgegangen.
«Ich habe das Aufgebot von Patrick Fischer studiert und mich über einige Namen gewundert. Und da habe ich gemerkt, dass sich die Zeiten geändert haben», sagt Domenichelli. «Wir wollten schon damals in Vancouver offensiv spielen. Aber wir konnten nicht. Weil wir den Puck fast nie hatten. Wir waren spielerisch zu wenig gut, wir konnten den Puck gegen die Besten der Welt nicht behaupten. Also musste Trainer Ralph Krueger vor allem defensiv starke Spieler aufbieten, die ohne Puck spielen konnten. Sonst hätten wir gar nicht mithalten können und wären überrannt worden.»
Das «Silber-Wunder» markiert eine offensive Zeitenwende. Nun haben wir genug Spieler, die auch auf WM-Niveau mit dem Puck umgehen und sich mit und nicht nur ohne Puck durchsetzen können. Zu den Zeiten von Krueger hatten wir noch keinen einzigen Stürmer in der NHL.
Erst unsere Torhüter und Verteidiger waren gut genug für die wichtigste Liga der Welt. Noch haben wir Schweizer zwar keinen Wayne Gretzky oder Sidney Crosby. Aber zum ersten Mal sind unsere Schlüsselspieler nicht mehr «nur» die Torhüter, kräftige Defensiv-Center und wehrhafte Verteidiger.
So eidgenössisch wie 2016 in Moskau waren die Schweizer («Eisgenossen» an einer Hockey-WM noch nie. Das Motto «1291» ist auf den Trainingsleibchen aufgedruckt, dazu zwei gekreuzte, blutrote Kriegsbeile, die fürchterliche Hiebwaffe jener Eidgenossen, die zwischen 1315 (Morgarten) und 1515 (Marignano) Europas gefürchtetste Infanterie waren. Nationaltrainer Patrick Fischer sagt allerdings, er sei er mit den Spielern nicht auf die Rütliwiese gereist und es habe in der Kabine keinen «Rütlischwur» gegeben. Ein «Hockey-Bundesbrief» existiere auch nicht. Diese Besinnung auf eidgenössische Werte ist der Kern der Vermarkungsstrategie («Swissness») von Verbandsdirektor Florian Kohler, die Patrick Fischer und seine Assistenten Felix Hollenstein und Reto von Arx personivizieren. Die Kasachen, im WM-Startspiel unsere Gegner, sind eindeutig weniger patriotisch und geschichtsbewusst. Auf ihren Trainingsleibchen fehlt die Zahl «1991». Kasachstan ist 1991, exakt 700 Jahre nach der Eidgenossenschaft unabhängig geworden. (kza)
Vier Stürmer verkörpern diesen neuen offensiven Jugendstil. Berns Simon Moser (27), Zugs Lino Martschini (23), Montreals Sven Andrighetto (23) und Minnesotas Nino Niederreiter (23). Lino Martschini ist der Interessanteste dieser vier. Er ist sozusagen die schweizerische Alternative. Die sportliche «Swissness».
Er hat sich als Junior zwei Jahre lang auf höchster nordamerikanischer Juniorenstufe durchgesetzt, ist aber das «Endprodukt» der helvetischen Hockeykultur: eigentlich zu leicht und zu klein – aber intelligent, beweglich, schlau und schussstark. Entweder gut genug für die NHL oder so sein wie Lino Martschini – das ist heute das neue Anforderungsprofil für einen WM-Stürmer.
Selbst Patrick Fischer war sich seiner Sache nicht ganz sicher. Lino Martschini hat das letzte WM-Testspiel gegen Deutschland (4:3 n.V) noch als 13. Stürmer begonnen. Doch dann erzielte er gegen die robusten Gegenspieler zwei Treffer und wurde zum besten Spieler gewählt. Nun beginnt er die WM heute im ersten Sturm neben Denis Hollenstein und Andres Ambühl.
Martschini läuft und tanzt und skort in der Liga – und kann es auch auf WM-Niveau. «Ich spiele mein Spiel, egal ob gegen Langnau oder gegen Kanada. Wenn ich auf einmal denke ‹oh, das sind jetzt die Kanadier!› würde ich mich verkrampfen.» Es ist das gesunde Selbstvertrauen einer neuen Spielergeneration.