Susanne Glättli spricht im Interview über die Sorgen einer Hockey-Mutter, wie sie den schweren Unfall ihres Sohnes Marco Maurer erlebte und warum sie den HC Lugano an den Pranger stellt.
Wie geht es Ihnen, nachdem Ihr Sohn Marco Maurer mit Biel aus den Playoffs ausgeschieden ist?
Susanna Glättl: Mir geht’s besser als ihm. Aber sie sind doch weit gekommen.
Spüren Sie nun Erleichterung, weil er die Saison heil überstanden hat?
Nein. Weil er schon viele Verletzungen hatte, bin ich etwas abgehärtet. Aber ich muss gestehen, dass ich mir während der Saison schon das eine oder andere Mal Sorgen um seine Gesundheit mache.
Nimmt die Angst um den Sohn mit der Zeit ab?
Ich hatte noch nie Angst um meinen Sohn. Auch nicht, als er ganz klein war und darauf getrimmt wurde, auf dem Eis böse zu sein.
Im Aeugstertal aufgewachsen, begann Maurer beim EV Zug mit Eishockey. 2007 krachte der Verteidiger an der Junioren-WM in Schweden in die Bande und brach sich das Genick. Neun Monate später gab er sein Comeback. Der 29-jährige ist beim EHC Biel unter Vertrag. Davor spielte er in Genf, Rapperswil, Zürich und Lugano. Susanna Glättli ist Maurers Mutter.
Ihr Sohn wurde in Zug zu einem bösen Spieler erzogen?
Er sollte die Gegner gewiss nicht absichtlich verletzen, sondern einfach hart spielen. Marco ist ein 88er-Jahrgang und spielte immer auch mit den 87ern. Er musste sich also behaupten. Und weil er gross und kräftig war, hat man ihm eine physische Rolle zugeteilt.
Eishockey verlangt von Eltern ein grosses Engagement.
Und wie. Zeitlich und finanziell. Mein Ex-Mann und ich hatten sieben Jobs, um über die Runden zu kommen. Aber Marco hatte einen derart starken Bewegungsdrang. Heute würde man ihn wohl mit Medis vollstopfen. Allein deshalb hat sich der Aufwand gelohnt.
Was hat Sie der Sport gekostet?
Das weiss ich nicht mehr. Wir haben es auch nie ausgerechnet. Allein ein Hockeystock kostete schon damals 200 Franken. Ich erinnere mich, dass in einem einzigen Spiel vier Stöcke von Marco in die Brüche gegangen sind. Später hat Marco dem Nachbarn den Rasen gemäht, um auch etwas zu verdienen.
Wann hat sich abgezeichnet, dass mehr als ein Hobby daraus wird?
Das war schon immer klar. Eishockey war für Marco immer alternativlos. Wenn es um Eishockey ging, musste man ihn zu keinem Zeitpunkt anstupsen. Einen Kampf hatten wir einzig, als es um die Lehre ging. Denn Marco sagte: «Ohne Hockey mache ich gar nichts.»
Wie ging es weiter?
Der EV Zug stellte zur Bedingung, dass er es in die U16-Nati schafft, damit er im Klub eine Sportler-Lehre machen kann.
Erkennen Sie Ihren Sohn auf dem Eis wieder?
Ja, das ist einfach seine andere Seite. Das Problem war eher, dass er neben dem Eis dafür büssen musste. Marco hatte etliche Lehrer, die ihn piesackten, nur weil er Hockey spielte. Sie erkannten gar nicht, welch grosser Aufwand dahintersteckt. Marco stand jeweils am Morgen um 5 Uhr auf, machte Hausaufgaben, dann in die Schule, am Mittag nach Hause die Hockeytasche packen, dann wieder Schule, nach der Schule ins Training, um 22.30 Uhr zu Hause, Nachtessen, schlafen. Und das jeden Tag.
War das Eishockey für Sie als Mutter eher Fluch als Segen?
Wir sind durchs Eishockey viel rumgekommen. Statt in die Ferien fuhren wir mit unserem Sohn halt an irgendein Turnier im Ausland.
Und dann kommt der Moment im Dezember 2007, als Marco an der Junioren-WM in Schweden kopfvoran in die Bande kracht.
Es war das erste Mal, dass wir eine Reise nicht mitgemacht haben. Marcos Vater und ich standen am Anfang unserer Trennung. Marco selbst hat gesagt: «So, jetzt bleibt ihr mal zu Hause und schaut für und zu euch.»
Welche Erinnerungen haben Sie an jenen 30. Dezember, als Ihr Sohn in Schweden das Genick brach?
Wir waren in der Vorbereitung für eine Silvester-Party, die wir mit Freunden feiern wollten. Am 30. Dezember kriegen wir einen Anruf. Die erste Frage des Anrufers: «Sind Sie versichert?»
Wie war die Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 2007?
Wichtig war, dass wir mit Marco sprechen konnten. Ausserdem hatten wir die Gewissheit, dass er gut versorgt wird. Trotzdem war unsere Erleichterung gross, als er an Silvester im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil eintraf. Doch die Zeit dort war nicht immer einfach für Marco. Als wir zu Beginn mal in die Cafeteria gingen und Marco die anderen Patienten sah, wurde ihm erst bewusst, was alles hätte passieren können.
Was hat das bei ihm ausgelöst?
Er hatte einen Zusammenbruch. Später sagte er: «Wenn mir noch mal so etwas passiert, bin ich lieber tot.» Marcos Glück war, dass er nicht operieren musste, sonst könnte er nicht mehr Eishockey spielen. Und sein Glück war es vor allem, dass sein Genick noch um ein paar Millimeter hielt und die starken Muskeln eine stabilisierende Wirkung hatten. Es ging bei ihm nicht um Rollstuhl oder nicht. Sondern um Leben oder Tod. Wenn die medizinischen Betreuer in Schweden falsch reagiert hätten, wäre Marco nicht mehr am Leben. Immerhin: Nach Marcos Unfall informierte der EV Zug die Eltern, wie ihre Kinder versichert sind. Fragen dazu stellten die Eltern zwar früher schon, aber sie erhielten keine Antworten.
Das sagt Maurer im Dezember 2016 beim SRF über seinen Unfall:
War klar, dass Marco nach dem Unfall seine Karriere fortsetzen würde?
Für Marco war das immer klar.
Und wie sind Sie damit umgegangen?
Gleich wie Marco. Eishockey ist seine Leidenschaft. Ein ähnlicher Unfall hätte auch beim Ski- oder Velofahren passieren können.
Hat der Unfall ihre Ehe gekittet?
Nein, das Gegenteil war der Fall. Mein Ex-Mann ist mit dieser Situation nicht klar gekommen. Der Unfall hat die Trennung eher forciert, weil mein Ex-Mann aus der Realität geflüchtet ist. Und Marco mit seinem grossen Pflichtbewusstsein fühlt sich schuldig an der Scheidung.
Männer sind die grösseren Feiglinge.
Wir Frauen sehen die Zeichen und stellen uns den Problemen. Die Männer indes wollen nichts hören, wenn etwas nicht gut läuft. Sie fliehen lieber in eine andere Wirklichkeit.
Nochmals zu Marcos Fortsetzung der Karriere.
Ja, ich bin sehr glücklich für ihn, dass er nun in Biel den Boden gefunden hat.
War das nicht überall so?
Nein, ihm wurden immer wieder Steine in den Weg gelegt.
Was für Steine?
Er hätte als Junior mehrmals in die USA gehen können, doch der Klub legte sein Veto ein.
Nach Zug spielte ihr Sohn auch bei den ZSC Lions und in Lugano.
ZSC, das war okay. Sein nächstes Engagement in Lugano war indes eine harte, lehrreiche Zeit.
Was meinen Sie damit?
Marco ist mit seiner Frau ins Tessin gezogen. So weit, so gut. Doch im dritten Spiel von Marco in der Resega wird seine Frau von einem Puck getroffen und verliert ein Auge. Das liegt nun drei Jahre zurück. Aber noch immer ist die Haftungsfrage nicht geklärt. Noch immer weigert sich Lugano als Organisator jenes Spiels, etwas zu bezahlen. Arbeiten kann meine Schwiegertochter seither nicht. Aber noch immer kriegt sie kein Geld von der IV oder Schadenersatz.
Ist es relevant, wer den Puck geschossen hat?
Lugano will zwar alles auf die Spieler abwälzen. Für mich ist es nicht relevant, wer geschossen hat. Lugano stellt sich auf den Standpunkt, meine Schwiegertochter hätte keine gültige Eintrittskarte gehabt. Dabei verteilt Lugano für die Angehörigen der Spieler als Eintrittskarten Plaketten so gross wie eine Chindsgi-Tasche. Ausserdem sind die Plätze für die Angehörigen der Spieler fix zugeteilt. Leider sind diese ziemlich nahe am Spielfeld, wo es kein Plexiglas gibt. Meine Schwiegertochter musste beweisen, dass sie eine gültige Eintrittskarte hatte. Sie musste alles beweisen. Dabei stand in Marcos Vertrag mit Lugano, dass er bei jedem Heimspiel Anrecht hat auf einen Tribünenplatz für seine Frau.
Das ist doch absurd: Lugano-Präsidentin Vicky Mantegazza ist nicht nur milliardenschwer, sie ist auch bekannt für ihre Grosszügigkeit. Nirgends in der Schweiz kriegen alternde Hockeyspieler besser dotierte Verträge. Aber im Fall Ihrer Schwiegertochter knausert Sie?
Ja, und das ist nicht in Ordnung. Von Frau zu Frau appelliere ich an mehr Menschlichkeit – Frau Mantegazza.
Ihr Sohn musste in Lugano noch eineinhalb Jahre mit der Wut gegen seinen Arbeitgeber ausharren.
Das war kein Problem. Marco konnte schon immer gut abstrahieren. Für ihn war klar: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Und er fühlte sich wohl in der Mannschaft. Aber seit diesem Vorfall laufen viele Dinge gegen meinen Sohn – alle hinten rum. ZSC-Verteidiger Blindenbacher hatte jüngst einen Zusammenstoss mit einem Linienrichter und wurde für ein Spiel gesperrt.
Ihr Sohn hat letzte Saison einen Schiedsrichter weggestossen und ist für elf Spiele gesperrt worden.
Das regt meinen Sohn richtig auf. Weil seine Aktionen härter sanktioniert werden. Die Folgen seines Rufs als Bösewicht machen ihm zu schaffen. Und sie machen ihn ein Stück weit fassungslos. Bisweilen weiss er nicht mehr, was er machen darf und was nicht.
Was raten Sie Eltern, deren Kinder Eishockey spielen wollen?
Wenn es das Kind wirklich will, nur zu. Eishockey ist eine grossartige Sache. Allgemein ist Sport die beste Schule. Der Sport ist zwar manchmal hart, selektiv, aber die Kinder lernen auf spielerische Weise, ihre soziale Kompetenz zu verbessern.