Joelle Weil schreibt in ihrer Kolumne, weshalb der Song von John Lennon für die Social-Media-Aktion der Schweizer Nationalmannschaft so gar nicht passend ist.
Man kann ja leicht durcheinanderkommen in diesen Tagen. Plötzlich ist das Leben anders. Viele arbeiten von zu Hause, die Freizeit gestaltet sich neu, die Nachrichten zeigen Bilder, die wir vor ein paar Monaten nie vermutet hätten. Ja, es sind verwirrende Tage, da wird manch einem «trümmlig». Dem einen mehr, dem anderen weniger. Zu Ersteren gehört unsere Schweizer Fussball-Nationalmannschaft.
Über die sozialen Medien wenden sich unsere Jungs ans Volk. Captain Stephan Lichtsteiner zeigt sich betroffen: «Wir wollen in dieser schwierigen Zeit ein Zeichen setzen. Ich hoffe, wir können euch damit ein bisschen Hoffnung und Mut geben.»
Dann singen sie alle John Lennons «Imagine». Der 1980 ermordete Brite besingt im Welthit von 1971 seine Vision einer Gesellschaft, in der Religion, Nationalität und Grenzen keine Rolle spielen. Es ist ein Lied gegen den Kapitalismus, für das Zusammen, gegen Krieg, für Solidarität und Frieden.
Die Aktion des Fussball-Nationalteams ist bestimmt gut gemeint. Schliesslich ruft Lichtsteiner im Intro dazu auf, die offiziellen Richtlinien zu befolgen. Aber um Himmels willen: Lennon würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, wofür seine Friedenshymne gerade missbraucht wird. Seinen grössten Hit hat er bestimmt nicht für uns geschrieben. Bestimmt nicht für das noch immer privilegierteste Land dieser Welt. Bestimmt nicht für Menschen, von denen man gerade nicht mehr verlangt, als zu Hause zu bleiben. Und das Zuhause ist nicht etwa ein Karton bei Minustemperaturen.
Der Song wurde bestimmt nicht für Menschen geschrieben, die gerade ihre Langeweile beklagen. Bestimmt auch nicht für Menschen, die sich hysterisch mit ihren Fäkalien auseinandersetzen. Und ganz bestimmt nicht für Menschen, die noch immer eine Auswahl von vierzehn verschiedenen Joghurtsorten geniessen. Diese Brise von Wohlstands-Selbstmitleid, die gerade durch unsere Gesellschaft weht, ist all das, wofür «Imagine» eben gerade nicht steht.
Unser Mitgefühl in diesen wie auch allen anderen Tagen sollte den Armen und Kranken gelten. Menschen, die hungern, die im Regen schlafen, die Opfer von Gewalt sind, die keinen Zugang zu Trinkwasser haben, die im Krieg leiden oder flüchten. Menschen mit tragischen Schicksalen ohne Happy End.
Aber uns selbst zu bemitleiden? Wir? Die mit Trinkwasser duschen? Auf Knopfdruck die Heizung ein- und ausschalten? Die gerade nur eine einzige Sache machen müssen, nämlich zu Hause sitzen? Wir sind keine Helden, weil wir zu Hause bleiben. Wir sind verwöhnt, weil wir die grossen Probleme nicht kennen.
Am Ende des Videos erklärt die Nati, dass sie dem Berufsverband der Pflegefachpersonen für die Anschaffung von benötigtem Schutzmaterial für Pflegende Geld spendet. Eine schöne Idee? Bestimmt. Richtig gemacht? Herrgott nein! Die Nationalelf erreicht Millionen Menschen. Wie wäre da ein politischer Appell für die bessere Bezahlung von Pflegefachpersonen gewesen? Oder: Sollte es tatsächlich am Geld liegen, dass es zu wenig Schutzmaterial für Pflegende gibt, dann könnte man als Nationalmannschaft dem Bund die Leviten lesen, und zwar richtig.
Das Nationalteam hätte so viele richtige Wege gehen können. Aber in Zeiten der Verwirrung verirrt sich eben manch einer. Unser Wohlstandsselbstmitleid mit Lennons Worten auszudrücken, ist respektlos gegenüber all denjenigen, die im Leben wirklich zu kämpfen haben.
Wir müssen nur zu Hause bleiben.