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Das Rad der Gesellschaft drehte langsamer in den letzten Monaten. In den Velowerkstätten dafür umso schneller. Einige hatten doppelt so viele Reparaturaufträge als üblich.
Nico Talamona eilt mit einem Kunden zu den Ersatzteilen, dann verabschiedet er sich von ihm. Als sich der 31-Jährige umdreht, steht schon eine neue Kundin da. Nach Begrüssungsfloskel und Bedarfsermittlung sagt er ihr: «Wenn Sie nur einmal in der Woche fahren, reicht ein einfaches Carbonrad.» Talamona ist Verkäufer im Bikecenter Flawil. Er erklärt und zeigt, führt aus und dann ein. In die Welt der Bikes und in die Welt der «Gümmeler», diese Menschen, die auf schmalen Rädern schnelle Strassen entlangfahren. Es gibt einige von ihnen. Momentan mehr als üblich. Denn viel ist los im Bikecenter Flawil. Und nicht nur dort.
Auch Martin Platter von velosuisse, das die Anliegen der Schweizer Fahrradbranche repräsentiert, sagt: «Wir verkaufen mehr Velos als sonst.» Obschon konkrete Zahlen erst Ende Jahr vorlägen, sei der Anstieg offensichtlich. Platter: «Es gibt Importeure und Händler, die teilweise ausverkauft sind.»
Die Verkaufszahl von Fahrrädern steigt jährlich, wenngleich sich die Beliebtheit der Modelle unterscheidet. Gegenwärtig sind vor allem E-Bikes im Trend. Auch die Sportvelos, die die Gümmeler fahren, sind gefragt. Über 160 000 wurden 2019 davon verkauft, das sind 2,2 Prozent mehr als im Vorjahr.
Ja, viel ist los. Auch auf den Strassen. Zusammen mit der Universität Basel untersuchte die ETH Zürich das Mobilitätsverhalten der Schweizer Bevölkerung in den letzten Monaten. Während die Nutzung von Autos und den öffentlichen Verkehrsmitteln teils bis zu 100 Prozent abnahm, nahm sie beim Velo an manchen Tagen über 100 Prozent zu. Platter sagt: «Die Menschen haben wegen des Coronavirus die öffentlichen Verkehrsmittel gemieden und sind vermehrt mit dem Velo von A nach B gefahren.»
Doch das Fahrrad ist häufig mehr als ein Fortbewegungsmittel. Es ist auch Selbstzweck. Fahren des Fahrens wegen. Talamona sagt: «Man verbringt viel Zeit mit sich, weil man nicht am Handy ist, sieht schöne Ecken, quält sich und ist nachher stolz darauf. Das alles tut gut.» Wegfahren und zu sich finden.
Während des Lockdown hatten wir doppelt so viele Reparaturaufträge als sonst.
Das Wegfahren mit dem Velo ist im Jahr 2020 einfacher als das Verreisen mit dem Flugzeug. Zwar haben einige Länder ihre Grenzen selbst für Einkaufstouristen wieder geöffnet, doch vielerorts herrschen Einschränkungen: Maskenpflicht, geschlossene Sehenswürdigkeiten, Kontingente für Strandbesucher. Viele Schweizerinnen und Schweizer dürften ihre Ferien deswegen innerhalb der Landesgrenze verbringen. Weil sie nicht verreisen können. Oder wollen. Das Bundesamt für Sport schreibt: «Innerhalb eines Jahres machen 25 Prozent der Schweizer Bevölkerung Sportferien in der Schweiz und 18 Prozent im Ausland.» Dieses Jahr werden wohl weniger im Ausland Sportferien machen, dafür umso mehr in der Schweiz sich schöne Ecken ansehen.
Und sich vielleicht auch quälen. Denn einige Menschen nutzen das Velo pragmatisch. Talamona erzählt von Kundinnen und Kunden, die ihm sagten: «Ich kann nicht ins Fitness gehen, jetzt kaufe ich ein Velo.» Fahren der Bewegung wegen. Meist seien das Neueinsteiger.
Die sind meist nicht auf neuen Velos unterwegs. Platter sagt: «Ich habe von vielen gehört, dass sie ihre alten Räder aus dem Keller holten und sie in die Reparatur brachten.» Talamona hat es selbst erlebt und sagt: «Während des Lockdown hatten wir doppelt so viele Reparaturaufträge als sonst.»
Die Velowerkstätte waren offen, Talamona arbeitete durch. Während das Rad der Gesellschaft langsamer drehte, drehte es in den Velowerkstätten umso schneller. Mancherorts war zu vernehmen, dass einzelne Ersatzteile nicht mehr verfügbar seien, weil diese in Asien produziert würden, wo das Coronavirus ausbrach. Doch Platter gibt Entwarnung: «Etwa 80 Prozent der Veloersatzteile produziert der japanische Hersteller Shimano. Und die haben viele Werke an unterschiedlichen Standorten.» Sollte aber mal ein Teil nicht vorrätig sein, seien andere Lösungen möglich.