Analyse
Keine Kundgebungen auf dem olympischen Podest: Wieso dieser Entscheid des IOC nicht zeitgemäss ist

Die Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees will die Regel beibehalten, wonach auf dem Spielfeld und auf dem Podest ein striktes Demonstrationsverbot gilt. Eine Mehrheit der befragten Sportler wünsche dies so.

Rainer Sommerhalder
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Die Fifa tolerierte die Meinungsäusserung der Fussballer auf dem Spielfeld, das IOC hingegen will solche Bilder bei Olympia nicht sehen.

Die Fifa tolerierte die Meinungsäusserung der Fussballer auf dem Spielfeld, das IOC hingegen will solche Bilder bei Olympia nicht sehen.

Keystone

Ein hochdekorierter Sportfunktionär wusste es schon vor Wochen. Das Internationale Olympische Komitee werde sich hüten, die kontrovers diskutierte Regel 50 zum jetzigen Zeitpunkt zu kippen. Und damit mutigen Athletinnen und Athleten neun Monate vor den umstrittensten Spielen seit 40 Jahren den perfekten Steilpass für Unmutsbekundungen zu Menschenrechtsverletzungen im Gastgeberland China zu liefern.

Es käme aus Sicht der vom IOC definierten Neutralität Olympischer Spiele einem Öffnen der Büchse der Pandora gleich. Die Regel 50 besagt, dass jegliche Demonstration sowie politisch oder rassistisch gefärbte Stimmungsmache im Rahmen der olympischen Wettkämpfe, der Zeremonien oder auf dem Siegerpodest verboten ist. Am Mittwochabend geschah, was prophezeit wurde. Die Athletenkommission der fünf Ringe präsentierte die Schlussfolgerungen einer Umfrage unter weltweit 3500 Sportlern. Zwar unterstütze das IOC die Meinungsfreiheit, schränkt sie zum Schutze der Neutralität des Sports und der Olympischen Spiele temporär aber weiterhin ein.

Sportler hätten in Sozialen Medien oder an Pressekonferenzen genügend Gelegenheiten, ihre persönliche Meinung zu manifestieren. Der Moment der Medaillenübergabe jedoch gehöre den Siegern. Die Vorschläge zur Aktualisierung der Regel 50 sind primär kosmetischer Art. Immerhin soll die Rechtsabteilung des IOC die Spannweite der Sanktionen festhalten und eine Einzelbetrachtung zulassen.

Flankenschutz erhielt die Athletenkommission aus dem Führungszirkel des IOC. Einerseits wird dort zur Legitimation der Regel 50 die Idee der Spiele gepriesen. Ein Ort gegenseitigen Respekts und mit dem Anspruch, ein Schritt in eine bessere Zukunft zu sein. Andererseits ist mit Blick auf sich äussernden Athleten von Protesten und Vergeltung die Rede. Die Macht der Worte hat das IOC längst begriffen.

Aber auch die richtige Sicht? Selbst die Fifa liess jüngst die Bekundungen diverser Nationalteams für die Einhaltung der Menschenrechte ungestraft zu. Im Vorfeld von WM-Qualifikationsspielen erinnerten die Spieler so ans umstrittene Turnier in Katar. Das IOC argumentiert, man könne nicht abgrenzen, welche Geste in Ordnung und welche verfehlt ist. Die Sicht auf Themen sei bei den unterschiedlichen Kulturkreisen und politischen Hintergründen nun mal verschieden. Es drohe auch eine Instrumentalisierung von Sportlern. Dürfen türkische Athleten Machthaber Erdogan salutieren?

Die weitgehende Beibehaltung der Regel 50 wird mit den Mehrheitsverhältnissen der Umfrage demokratisch legitimiert. 70 Prozent der Athleten wollen keinen Protest auf dem Spielfeld, 67 Prozent nicht auf dem Podest. Es ist unbestritten, dass die neue Art der Meinungsäusserung im Sport aus der westlichen Welt stammt. Ebenso ist anzunehmen, dass Sportler aus China, aus Russland oder aus dem arabischen Raum sich in der Umfrage kaum für solche Aktionen aussprachen. Schliesslich mussten sie erfahren, dass man bei Protesten gegen Menschenrechtsverletzungen schon mal ins Gefängnis geworfen (Weissrussland), gefoltert (Bahrain) oder gar hingerichtet (Iran) wird.

Aber sind Bekundungen zu Menschenrechten und gegen Rassismus überhaupt Demonstrationen oder politische Aktionen? Wenn Olympische Spiele zu einer besseren Welt beitragen können, wieso sollen Athleten ihren Beitrag nicht leisten? In jenem Augenblick, wenn die ganze Welt zuschaut. Meinungsfreiheit darf weh tun, gerade bei einem Ereignis wie den Olympischen Spielen. Unabhängig davon, ob das einem Gastgeberland passt oder nicht. Man kann ein Bekenntnis zu Menschenrechten nicht per Mehrheitsentscheid einschränken lassen. Das hat nichts mit politischer Neutralität oder mit unterschiedlicher Kulturauffassung zu tun, sondern mit fehlender Courage.