Die Olympiasieger Karsten Warholm und Jakob Ingebrigtsen haben die Leichtathletik in Norwegen auf ein völlig neues Level geführt. Und sie sehen noch mehr Potenzial.
Der staatliche Rundfunkt nannte Karsten Warholms Fabelweltrekord über 400 m Hürden in Tokio «die grösste sportliche Leistung eines Norwegers aller Zeiten». Der 25-jährige Leichtathletik-Superstar selbst antwortet am Mittwoch in Lausanne auf die Frage, ob ihm als Europameister, Weltmeister und nun auch Olympiasieger mit einem Jahrhundertrekord im Gepäck nicht langsam die Ziele ausgehen, es sei «das Ende vom Anfang». Er bleibe topmotiviert, sich weiter zu verbessern und sei überzeugt, dass die 45,94 Sekunden noch nicht die ultimative Wahrheit sind.
Warholm und Landsmann Jakob Ingebrigtsen, Olympiasieger über 1500 m, geben sich am Tag vor ihrem Auftritt beim Diamond-League-Meeting Athletissima betont selbstbewusst. Diese Haltung ist ein Puzzlestück ihres Erfolgs. Beide kennen gedanklich keine Grenzen. Der 20-jährige Ingebrigtsen sagt auf die Frage, was er von seinen älteren Brüdern Henrik und Filip, die er inzwischen deutlich distanziert, gelernt hat: «Die Mentalität von Henrik. Er glaubte immer daran, etwas erreichen zu können. Selbst wenn es grösser war, als für ihn realistisch gewesen ist.»
In einem Punkt aber unterscheiden sich Warholm und Ingebrigtsen. Der Hürdenläufer bettet seine kühnen Aussagen oft in vergnügliche Sätze. Der Schalk sitzt dem früheren Zehnkämpfer im Nacken. Leichtathletik-Legende Ed Moses habe ihm gesagt, mit der heutigen Technologie wäre er noch schneller als Warholm gerannt. «Aber ich denke, er kann von Glück reden, dass er nie gegen mich antreten musste».
Jakob Ingebrigtsens Antworten hingegen sind durchwegs humorfrei. «Ich bin nicht hier, um Zweiter zu werden», sagt er zu seiner Vorstellung für das Rennen am Donnerstag über 3000 m. «Zweiter zu werden, wird mich nie zufriedenstellen».
Neben den Leichtathleten Karsten Warholm und Jakob Ingebrigtsen feierte Norwegen in Tokio zwei weitere Goldmedaillen durch Triathlet Kristian Blummenfelt und die Beachvolleyballer Anders Mol und Christian Sorum. Nie zuvor war Norwegen in einer dieser Sportarten Olympiasieger. Es gibt zwischen diesen Erfolgen erstaunliche Parallelen. Der Ursprung liegt in familiär gesteuerten Projekten, die vor rund zehn Jahren gestartet wurden und in kleinen Teams zum maximalen Erfolg vorangetrieben wurden. So schipperten die Eltern der Volleyballer eigenhändig Sand aus Dänemark per Schiff zur ersten Beachanlage ins heimatliche Strandvik. Auffallend auch die aussergewöhnlich hohen Trainingsumfänge aller Olympiasieger, verbunden jedoch mit ausserordentlich enger zwischenmenschlicher Begleitung. Eine Scharnierfunktion nimmt das norwegische Sportzentrum «Olympiatoppen» ein, das für einen unkomplizierten Wissenstransfer über Sportartengrenzen hinweg besorgt ist. Wissenschaftler der norwegischen Sportakademie erkennen einen weiteren Trumpf in der Kleinräumigkeit der Projekte. Man habe den maximalen Erfolg quasi auf der grünen Wiese geplant, Trainingsprinzipien auf das Individuum adaptiert und war damit nicht gefangen in vorgespurten Wegen wie etwa Athleten in grossen Leichtathletik-Nationen. Wunschlos glücklich sind aber auch die Norweger nicht. Seit 2008 wurden bei Sommerspielen die Medaillen in Individualsportarten ausschliesslich von Männern gewonnen. (rs)
Dieser Unterschied hat viel mit der Person und der Philosophie zu tun, wie die zwei Ausnahmekönner trainiert werden. Gemein ist Beiden das familiäre Umfeld ihres Sportleralltags, der riesige Umfang des Trainings sowie die Tatsache, dass das norwegische Fernsehen beide Stars in Form einer mehrteiligen Doku-Soap hautnah begleitet. «Team Ingebrigtsen» sowie «Karsten und Leif» lauten die beliebten Serien mit inzwischen mehr als 20 Folgen.
Leif ist der Name von Warholms Trainer und väterlichem Freund Leif Olav Alnes. Der 64-jährige hat als Wissenschafter einst einen brillanten Abschluss in Biomechanik gemacht, ist seit Mitte der Achtzigerjahre Sprinttrainer und war im Jahr 2015 perspektivlos, ehe ihm Rohdiamant Karsten Warholm begegnete. «Ich stand vor dem Spiegel und fragte mich, wer wohl dieser ältere Herr sei», sagt Alnes.
Legendär ist neben seiner akribischen Art, sein schräger Humor. Diesen teilt er mit Warholm, ebenso das Zimmer bei Reisen. Der Humor sei neben der Leidenschaft die wichtigste Eigenschaft, damit der Alltag miteinander auf Dauer funktioniere. Legendär sind die bis achtstündigen Trainingsblöcke. «Wir suchen stets neue Lösungen. Es gibt 50 Schubladen, die wir noch öffnen können», sagt Alnes. Perfektioniert hat das Duo die Technik. Keiner verliert bei den Hindernissen weniger Zeit als Warholm. Man müsse nicht nach Problemen suchen.«Wenn diese gross genug sind, finden sie dich automatisch», sagt Alnes, dessen Leitspruch lautet: «Gut gemacht ist besser als gut gesagt.»
Auch Jakob Ingebrigtsens Trainingstage sind lang und hochtourig. Dafür sorgt der gestrenge Vater Gjert. Für ihn als Trainer ohne Background war Henrik eine Art Prototyp. Der Vater sagt selbst, er habe bei dessen Betreuung viele Fehler gemacht, diese beim zweiten Sohn Filip teilweise korrigiert und dank seinen herausragenden analytischen Fähigkeiten nun bei Nachzügler Jakob ausgemerzt. Entstanden ist der beste europäische Mittel- und Langstreckenläufer der Geschichte. Jakob besitzt die Europarekorde über 1500 m und 5000 m. In Lausanne soll nun jener über 3000 m folgen.
Auch Karsten Warholm wird in Lausanne ein weiterer Rekord zugetraut. Er startet für einmal über 400 m flach. Als Extrareiz für die Motivation, wie es Trainer Alnes ausdrückt. Angepeilt wird der Uralt-Europarekord von DDR-Athlet Thomas Schönlebe (44,33) aus dem Jahr 1987.