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Seit vier Jahren denkt der Genfer Alan Roura nur an die Vendée Globe, das härteste Segelrennen der Welt, das am 8. November starten soll. Es ist ein Abenteuer, bei dem er nicht weiss, ob er je zurückkommt. Doch diesmal ist der Ansporn ein anderer. Denn im Juli wird Roura zum ersten Mal Vater.
Das Segeln ist ein einsamer Sport, und es ist auch ein egoistischer. Wer an der Vendée Globe teilnimmt, riskiert sein Leben. Es ist ein Rennen über 45'000 Kilometer – ganz allein und ohne Hilfe – vom westfranzösischen Küstenort Les Sables-d’Olonne ums Kap der Guten Hoffnung, quer durch den Indischen Ozean, vorbei an Australien, durchs Südpolarmeer hinüber zum Kap Hoorn an der untersten Spitze Südamerikas und dann wieder alles hinauf, zurück nach Frankreich. Die Arena ist die grösste der Welt, so launisch wie eine Diva, mal begrüsst sie ihn mit Sonnenschein, ein anderes Mal peitscht sie ihm die Wassermassen ins Gesicht, mal brennt sie ihm auf der Haut, ein anderes Mal kriecht ihm die Kälte in die Knochen.
Die Weltmeere sind Alan Rouras Zuhause, seine Bühne, seine Arena, die grösste der Welt, eine aber ohne Zuschauer, in absoluter Einsamkeit. Doch wenn er am 8. November zum zweiten Mal zum grössten Abenteuer des Segelsports in See sticht, ist er zwar alleine, doch sein Leben wird ein anderes sein. Denn im Juli werden seine Frau Aurélia Mouraud und Alan Roura zum ersten Mal Eltern. Kinder zu haben, so sagte er es im letzten Herbst zu dieser Zeitung, wäre ein Grund mehr, wieder zurückzukommen, und sich nicht irgendwann doch noch zu verlieren, da draussen in der kalten See. Eine Familie komplettiere einen Menschen, und das mache ihn auch zu einem besseren Segler, achtsamer und verantwortungsvoller.
2016 war er als 23-Jähriger zum ersten Mal alleine in See gestochen, die Welt komprimiert auf wenige Quadratmeter, Wind, Wetter, Einsamkeit und Verzicht ausgesetzt, und als er zurückkehrte, hatte Alan Roura die Hälfte seiner Muskelmasse verloren, konnte kaum noch gehen, kaum noch weinen, so erschöpft war er. Doch er wusste: Dieses Rennen lässt ihn nie mehr los. Aber die Corona-Pandemie hat auch seinen Alltag erfasst. Seit Wochen ist der Segler in Quarantäne, Ausfahrten sind verboten, die Werft geschlossen. Für Roura ist es eine Einsamkeit in Zweisamkeit, die sich nicht mit dem Gefühl auf hoher See zu vergleichen lässt. «Auf dem Wasser ist die Landschaft nie die gleiche, das Wetter wechselt, man ist immer in Bewegung. Und wenn du auf dem Boot bist, hast du keine Wahl, du bist von Wasser umgeben, und kannst nicht einfach aussteigen.»
Alan Roura lebt in Lorient, einer französischen Kleinstadt in der Bretagne, am Ufer des Flusses Blavet, der in die kalten Wassermassen des Atlantiks mündet. Lorient ist wahrlich kein Bijou, aber für Extremsegler ist es ein Ort der Sehnsucht. Alan Roura ist auf dem Meer aufgewachsen. Mit acht Jahren überquerte er zum ersten Mal mit seiner Familie den Atlantik auf einem Segelboot. Mit 13 heuerte er in einer Werft in Venezuela als Arbeiter an. Mit 14 fuhr er seine erste Regatta in der Karibik. Zur Schule ging er genau einen Tag, dann schmiss er hin. Was Roura weiss und kann, hat ihn das Meer gelehrt. «Nicht segeln zu können, ist hart. Es bricht mir das Herz, ein so schönes Boot zu haben, mit dem ich nicht in See stechen darf.» Alan Roura vermisst das Meer, und das Meer vermisst ihn.
Zwei Rennen im März wurden abgesagt, an seinem Boot, das er für eine knappe Million und mit Hilfe seines Sponsors «La Fabrique» gekauft hat, darf er nicht arbeiten, die Crewmitglieder sind Zuhause bei ihren Familien. Ab Anfang Mai darf er dank einer Sondergenehmigung wieder für wenige Stunden in See stechen. Und Alan Roura hofft, dass er am 8. November zur Vendée Globe starten kann. Seit vier Jahren, seit er völlig erschöpft als Jüngster in der Geschichte des härtesten Segelrennens im Ziel angekommen ist, denkt er daran, wie es sein wird, wenn er wieder aufbricht in ein Abenteuer, von dem er nicht weiss, ob er zurückkehrt.
Wie ein Paar werden Alan Roura und die Weltmeere sich lieben und hassen, sich impulsiv gegenseitig zur Brust ziehen, als wollten sie sich nie wieder loslassen – um sich im nächsten Moment wieder voneinander abzustossen, als wäre es ein Abschied für immer. Und er wird es wieder lieben, das Gefühl der Freiheit, die Konfrontation mit der Angst, die Einsamkeit, die er nur in der uferlosen Weite findet. 105 Tage, 20 Stunden, 10 Minuten, 32 Sekunden – so lange dauerte der erste Tanz. Nun möchte Alan Roura in weniger als 80 Tagen um den Globus segeln. Auch, weil der Mann der Einsamkeit zurück will in seine Welt der Zweisamkeit.