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An diesem Wochenende wäre Daniela Ryf am Ironman auf Hawaii wieder um Bestmarken geschwommen, gefahren und gerannt. Darin, dass das Rennen nicht stattfinden kann, sieht die 33-Jährige aber auch Gutes.
In ihrem ersten Sportlerleben war Daniela Ryf relativ erfolgreich auf der Kurzdistanz. Sie war Welt- und Europameisterin bei den Juniorinnen, und 2008, mit 21 Jahren, belegte sie bei den Olympischen Spielen in Peking den siebten Rang. Zwei Jahre später gewann sie ein Weltcup-Rennen in Seoul, holte sich im Wasser aber einen Magendarmvirus, der sie zwei Jahre ausser Gefecht setzen sollte. Sie war schlapp und lustlos, spielte mit dem Gedanken an den Rücktritt. Dann kam im Frühling 2013 Brett Sutton, ein kauziger Australier, der im Sommer zuvor Nicola Spirig zum Olympia-Sieg in London geführt hatte. Und Sutton erkannte, was bis dahin niemandem aufgefallen war: dass Daniela Ryf eine Langdistanztriathletin ist, geboren für Wettkämpfe wie den Ironman Hawaii. Im Sommer 2014 bestritt sie in Zürich ihren ersten Ironman. Und gewann überlegen.
Das war Daniela Ryfs zweite Geburt.
Drei Monate später stand Daniela Ryf erstmals beim Ironman auf Hawaii am Start. Es ist eine der härtesten Ausdauerprüfungen der Welt: 3,86 Kilometer Schwimmen, 180,2 Kilometer auf dem Fahrrad, zum Abschluss ein Marathon: 42,195 Kilometer. Bei Hitze, hoher Luftfeuchtigkeit und starken Winden. Ryf wird bei ihrer Premiere in 9:02:57 Zweite, gut zwei Minuten hinter der Siegerin, Mirinda Carfrae. Seither dreht sich in ihrem Sportlerleben alles um das Rennen auf der Insel Kailua-Kona. Von 2015 bis 2018 gewann die Solothurnerin vier Mal in Folge, zuletzt in einer Zeit von 8:26:18 Stunden mit Streckenrekord. Manchmal, sagt Daniela Ryf, komme es ihr so vor, als sie sie auf dieser Insel geboren. Die Ortschaft auf Big Island, der grössten Insel des Hawaii-Archipels, hat ihr Leben verändert.
Nun ist Ryf im Oktober erstmals seit sieben Jahren nicht auf Hawaii. Wegen der Corona-Pandemie wurde das Rennen abgesagt.
Was machen Ungewissheit und Unsicherheit mit Daniela Ryf?
Anfang Oktober sitzt sie in der Lounge eines Hotels in ihrer Heimatstadt Solothurn, es liegt direkt an der Aare. Normalerweise würde sie jetzt Fragen beantworten, die sie nicht mag, weil sie keine Lautsprecherin ist. Wie gut sie in Form sei. Ob sie ihren Streckenrekord brechen könne. Wie viele Männer sie diesmal hinter sich lassen könne. Stattdessen geht es um Zukunftspläne, um Verantwortung, um die Suche nach Halt in einer Zeit, in der morgen schon überholt sein kann, was gestern noch gültig war. Dank langjährigen Partnern lebt Ryf gut von ihrem Sport. Sie ist nicht dringend auf Preisgelder angewiesen. Aber sie trägt nicht nur Verantwortung für sich, sondern auch für ihr Team - Trainer, Management, Betreuerin.
Sie sagt: «Ich habe die Sicherheit, weiter das tun zu können, was ich auch möchte. Aber die Verantwortung ist auch eine Belastung für mich.» Ryf hat in den letzten Monaten weiter trainiert. So, als würde der Ironman auf Hawaii stattfinden. Doch die letzten Monate haben die Perspektive auf den Sport verändert. Ryf sagt, sie habe gemerkt, dass die Balance nicht mehr gestimmt habe. Corona habe ihr die Augen geöffnet. Sie sagt: «Das Training erfüllt mich, aber ich habe gemerkt, dass ich wieder etwas für den Kopf machen will.» Deshalb hat sie beschlossen, in den nächsten Monaten ihr Studium in Lebensmitteltechnologie zu beenden.
Zuvor, sagt Ryf, habe ihr der Mut gefehlt, weil sie immer gedacht habe, sie müsse Leistung bringen. «Das konnte ich nun ablegen. Ich habe jetzt mehr Luft.» Doch nicht nur deswegen kann sie der Absage des Ironman Hawaii auch Gutes abgewinnen. Im Frühling hatte sie bei einem Misstritt beim Lauftraining Bänder im Fuss angerissen und Kapsel verletzt und sich deshalb eine Pause gegönnt. Sie sagt: «Denn jetzt ist der Zeitpunkt günstig, alles heilen zu lassen. In den nächsten sechs Monaten finden keine bedeutenden Wettkämpfe statt.» Selbst eine Operation möchte sie nicht ausschliessen, möchte aber noch andere Optionen prüfen.
Ryf sagt, ihr innerer Antrieb seien nicht die Wettkämpfe. Sich entwickeln zu können, ohne unter Dauerbeobachtung zu stehen, sei für sie eine Art Befreiung gewesen. Sie sagt: «Das Paranoide ist, dass ich ich in diesem Jahr so viel trainiert habe wie noch nie.» Weil die Reisen und Wettkämpfe weggefallen sind. Andererseits hätte ihr der Vergleich mit der Konkurrenz gefehlt. «Die Bestätigung dafür, was ich im Training mache, hole ich mir im Rennen. Mir fehlt der Druck, das Gefühl, über mich hinauszuwachsen. Abzuliefern. Wieder mal auf Papier zu sehen: Doch, du kannst noch etwas.» Es ist eine Art Phantomschmerz bei der Königin von Kona. Weil sich der Nervenkitzel des Wettkampfs in keinem Training simulieren lässt.